Hansjörg Schneider gilt als einer der wichtigsten lebenden Dramatiker der Schweiz. Grund dafür ist die erotische Gruselfarce »Sennentuntschi«, die er vor mehr als einem halben Jahrhundert im Dialekt schrieb. Foto: Philipp Keel.
Jetzt kommt das Frühwerk des heute 86-Jährigen bei Diogenes neu heraus. Da Schneider kein Internet besitzt, schickte er die schreibmaschinengetippten Antworten auf unsere Fragen per Post.
Anlass des Interviews ist die Neuausgabe von »Sennentuntschi« in beiden Fassungen, ergänzt um zwei frühe Erzählungen. Wie bewerten Sie die Zusammenstellung gerade dieser Texte zur heutigen Zeit? Was haben sie miteinander zu tun?
Die Zusammenstellung der drei Texte kommt daher, weil es meine ersten Texte sind, die ich entschlossen geschrieben habe. »Leköb« 1967, »Distra« 1968, »Sennentuntschi« 1970. Damals hatte ich eine Traum-Analyse hinter mir, in der ich meine rücksichtslosen, wilden Träumen kennen gelernt hatte. Ich war damals auch selber ein wilder Kerl.
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie »Leköb« und »Distra« heute lesen, in ihrer eigenwilligen archaischen Sprache?
Als ich diese drei frühen Texte mit ihrer archaischen Sprache wieder las, bin ich schon ein bisschen erschrocken. Die Versuchung war da, zu streichen und zu straffen. Aber dann habe ich gedacht, dass es historische Texte sind, die ich am besten nicht verändere.
Der große Skandal um »Sennentuntschi« kam erst neun Jahre nach der Uraufführung im Zuge einer Fernsehausstrahlung. Das ist jetzt auch schon über vierzig Jahre her. Was sind ihre prägendsten Erinnerungen an die damaligen Tumulte?
»Sennentuntschi« auf der Schauspielhausbühne war ein richtiger Kracher. Auf dem Fernsehschirm war es dann ein Skandal, was uns alle überrascht hat. Wir haben schon Unruhe erwartet, aber nicht diese Explosion von Verletzung und Wut. Der Unterschied: Die Theaterbühne ist öffentlich, der Fernsehschirm ist privat und wurde mit Nägeln und Klauen verteidigt.
Wenn man heute Ausschnitte sieht und das Stück liest, erscheint einem der Skandal geradezu unwirklich. Was meinen Sie, wäre das in Österreich oder Deutschland auch passiert? Warum diese völlig unverhältnismäßige Aufregung?
Wenn »Sennentuntschi« 1981 im deutschen oder österreichischen Fernsehen gezeigt worden wäre, hätte es wohl auch einen Aufstand der Spießer gegeben. Ein Beispiel: Als das Stück 1983 als Oper in Freiburg im Breisgau uraufgeführt wurde, hat sich der Obmann des Orchesters kurz vor Beginn der Generalprobe erhoben und erklärt, die Musiker des Orchesters hätten eigentlich beschlossen, diese Schweinerei nicht zu spielen. Dem Frieden zuliebe haben sie aber die Schweinerei doch gespielt. Es ging um einige wenige Wörter aus der erotischen Umgangssprache. Und natürlich um die archaische Wucht der Sage.
Wird es von Ihnen noch neue Theaterstücke geben?
Aller Voraussicht nach werde ich kein Theaterstück mehr schreiben.
Sie haben die Entwicklungen des Theaters stets begleitet, als Regieassistent, als Dramatiker, aber auch in den Hunkeler-Krimis. Wie ist ihre Diagnose des aktuellen deutschsprachigen Theaters nach der Pandemie? Kann es noch etwas bewirken?
Das Stadttheater wird weiterleben, mitten in der Stadt. Es wird sich verändern, wie jede Kunst. Aber die großen Autoren Sophokles, Shakespeare und Schiller werden weiterhin gespielt werden. Auch Mozart und Wagner. Da es in der Schweiz kein adliges Hoftheater wie zum Beispiel in Weimar gegeben hat, hat sich hier ein hochstehendes Laientheater entwickelt, das höchst lebendig ist.
In einem Radiointerview sagten Sie 2023, Sie hätten keine Lust mehr auf den Kriminalkommissär Hunkeler, stattdessen veröffentlichten Sie Tagebucheinträge. Wie hat sich Ihre Lust seither entwickelt?
Im Moment habe ich keine Lust mehr auf Kommissär Hunkeler. Vielleicht noch das Tagebuch eines alten Mannes, das war’s dann.
Wissen Sie noch, was Sie am Höhepunkt Ihres literarischen Erfolgs dazu bewegt hat, eine Regionalkrimireihe zu starten?
1990 hatte ich Lust auf etwas Neues, auf einen Kriminalroman. Beim Schreiben habe ich erfahren, was der Krimi für eine wunderschöne Literaturgattung ist. Dass daraus eine Serie von zehn Krimis wird, hätte ich nicht gedacht.
Wir lassen Ihnen die Fragen per Post zu kommen, weil Sie, wie uns der Verlag mitteilte, kein Internet haben. Auch in Ihrer Literatur spielt dieses Phänomen so gut wie keine Rolle. Bereuen Sie manchmal, auf diesen Zug nicht aufgesprungen zu sein? Haben Sie nicht das Gefühl, ohne Internet viel zu verpassen?
Ich habe nie beschlossen, kein Internet haben zu wollen. Es hat sich so ergeben, weil ich kein Internet nötig hatte. Jetzt, da mein Gedächtnis immer schlechter wird, wäre es schon gut, Internet zu haben. Einfach deshalb, weil das Internet u. a. auch ein großartiges Lexikon darstellt. Vielleicht lerne ich es noch.
Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter »Sennentuntschi« und »Der liebe Augustin«, war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine »Hunkeler«-Krimis führen regelmäßig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.
Lesen Sie dazu auch unsere Titelgeschichte in Buchkultur 217!
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Hansjörg Schneider
Das Sennentuntschi und andere frühe Texte
Diogenes, 224 S.