Ein außergewöhnlicher Thriller aus Südkorea mit einer ebenso ungewöhnlichen Protagonistin: »Frau mit Messer« von Gu Byeong-mo handelt von der 65-jährigen Auftragsmörderin Hornclaw und ihrem letzten Job. Foto: privat.


Im Gewand eines Thrillers werden universelle gesellschaftliche Themen verhandelt, mit denen sich auch Leser/innen im Westen identifizieren: Alter, Armut, Misogynie, Verlust und Tod. Mit Buchkultur sprach Gu Byeong-mo über Frausein in Südkorea, Misogynie, unseren Umgang mit dem Tod und Altern und die Aufgabe der Literatur.

Buchkultur: Die Protagonistin Ihres Thrillers »Frau mit Messer« ist eine Auftragsmörderin kurz vor dem Ruhestand. Was hat Sie dazu inspiriert, eine alte Frau in den Mittelpunkt Ihres Romans zu stellen?

Gu Byeong-mo: Ich sagte mir immer, dass sich mein Thriller, sollte ich je einen schreiben, von den konventionellen Krimis mit ihren Auftragskillern unterscheiden sollte. Dann, eines Tages, stieß ich auf einen faulen Pfirsich in meinem Kühlschrank. Diese verdorbene Frucht inspirierte mich. Also erfand ich anstelle eines starken und unbesiegbaren Martial-Art-Gurus einen Charakter, den wir normalerweise für schwach und marginalisiert halten würden. Eine alte Frau wird für doppelt schwach gehalten: wegen ihres Frauseins und wegen ihres alternden Geistes und Körpers. Mein Roman untersucht, wie eine Protagonistin mit tödlichen Schwächen es mit der Welt aufnimmt, die sie auf Schritt und Tritt herausfordert.

Alte Menschen – insbesondere alte Frauen –  werden von einer Gesellschaft, die jung und fit sein möchte, übersehen und unsichtbar gemacht. Das ist bei uns im Westen nicht anders.

Früher war die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen viel niedriger. Ein fortgeschrittenes Alter – das nach heutigen Maßstäben gar nicht mehr so »fortgeschritten« wäre – bedeutete einen Lebensabschnitt, der dem Tod näher war als dem Leben. Natürlich mögen die meisten Menschen die Vorstellung des Todes nicht. Die Möglichkeit zu sterben droht immer. Damit leben wir. Aber ich bezweifle, dass viele Menschen den Tod einladen würden. Unsere Angst vor dem Tod zeigt sich wohl in unserer Ablehnung des Alterns. Diese Aversion hat sich vielleicht seit Anbeginn der Zeit in unser Unterbewusstes eingegraben. Jugend und Gesundheit sind das, was das menschliche Herz seit jeher vergöttert und mythologisiert, und was diesen Bildern widerspricht, wird als »das andere« abgelehnt. Altwerden, Aging – und alles, was damit einhergeht wie Falten, Geruch, Zahnverlust, eingeschränkte Mobilität – wird als hässlich angesehen. Denn das sind die Zeichen des nahen Todes. Hören wir nicht allzu oft von Menschen, die entschlossen sind, ihre Jugend und Schönheit um jeden Preis zu erhalten? Pelias’ Töchter z.B. glaubten an Medeas magische Kraft und zerstückelten ihren eigenen Vater, um ihn wieder jung zu machen. Geschichten und Mythen wie diese haben zu einer kollektiven Vorstellung beigetragen, die wir geerbt haben. Ich glaube nicht, dass das über Nacht passiert ist.

Glauben Sie, dass die #MeToo-Bewegung geholfen hat, die Position der Frauen zu stärken?

Dieses Buch wurde in Südkorea schon 2013 veröffentlicht, lange vor dem Beginn der #MeToo-Bewegung. Ich habe den Roman also nicht geschrieben, um auf einen Zug aufzuspringen oder ein trendiges Thema aufzugreifen oder unter dem Einfluss verschiedener feministischer Theorien. Dieser Roman erschien lange vor einem gesamtgesellschaftlichen modernen feministischen Dialog in Südkorea. Aber wenn Sie mich nach meiner persönlichen Meinung fragen – ohne Bezug auf den Schreibprozess dieses Buchs –, dann würde ich Folgendes sagen: Was wirklich zählt, ist, dass jede Frau eine Stimme hat (unabhängig davon, welche Bewegung auch immer gerade abläuft). Dass die Stimmen der Frauen in jeder sozialen Bewegung etwas gelten. Allein zu zeigen, dass »ich auch eine Stimme habe«, ist ein großer Schritt vorwärts. Ein solcher Akt ermutigt viele, die zum Schweigen gebracht wurden oder werden.

Dank der medizinischen Fortschritte und der besseren Versorgung werden die Menschen immer älter. Früher wurden alte Menschen als weise verehrt. Man schätzte sie für ihre Lebenserfahrung. Weshalb ist das nicht mehr so?

 Nun, wir leben im Wortsinn in einer Zeit, in der wir nicht sagen können, wie der morgige Tag aussehen wird. Dass jemand uns ein paar Jahre voraus hat, bedeutet also nicht mehr viel. Ich bin skeptisch, was diese frühere Kultur der Ehrfurcht vor dem Alter oder der Wertschätzung der Weisheit und Erfahrung der Älteren betrifft. Das würden wir gerne glauben. Aber sogar in der Vergangenheit waren Ältere, die man aufgrund ihrer Weisheit und Erfahrung respektierte, in der Minderheit, z.B. Philosophen, Mentoren, Shamanen oder Anführer. Und mit Ausnahme dieser paar wenigen können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob ältere Menschen generell dieselbe Wertschätzung erfuhren. Da alle Mythen und Geschichten über das Streben nach Jugend und Schönheit das genaue Gegenteil indizieren, neige ich eher zu der Annahme, dass diese angebliche frühere Verehrung der Älteren auch wieder nur ein Mythos ist, an den wir gerne glauben würden. Die respektierten älteren Leute in Geschichten, der Bibel oder Mythen sind wahrscheinlich nur Ausnahmefälle und nicht wirklich repräsentativ für den Umgang mit alten Menschen zu der Zeit.

Tod und Altern sind Tabuthemen. Wir verdrängen den Tod. Alte Menschen leben in Pflegeheimen, wir sehen sie also nicht einmal mehr altern. Wie können wir uns mit dem Altwerden, mit dem Tod arrangieren, versöhnen?

Ich glaube nicht, dass es der menschlichen Natur entspricht, Altern und Tod bereitwillig zu akzeptieren – mit Ausnahme ein paar weniger Menschen, die durch Religion, spirituelle Meditationen oder Erfahrungen mit Gurus, die ihnen die Augen öffnen, wahrhaft erleuchtet werden. Wir Menschen sind Tiere mit Begierden, Trieben. Wie viele Philosophen sagten: Die Begierden hören erst auf, wenn der Mensch stirbt. Und es wird wieder eine ungesunde Obsession, das Altern und den Tod akzeptieren zu wollen. Das ist der Zyklus des nie endenden Begehrens. Der Buddhismus lehrt uns, dass unser Streben nach Transzendenz und danach loszulassen auch nur eine andere Form der Obsession ist. Das, was gleich bleibt, ist, dass wir letztlich alle eines sanften oder gewaltsamen Todes sterben werden – und zwar dann, wenn er kommen will.

 »Frau mit Messer« bricht mit gängigen Krimi-Stereotypen und Klischees. Das Buch reicht weit über das Genre des Thrillers hinaus. Was wollten Sie damit zeigen?

Als ich das Buch schrieb, hatte ich kein Genre, sei es Thriller oder Mystery, im Sinn. Es begann als Roman über unsere Vorurteile, und wahrscheinlich ist es genau das. Vorurteile wie, dass alle Auftragsmörder starke, gesunde, junge Männer und Frauen sind. Es braucht nur eine andere Perspektive, um zu sehen, dass das Vorurteile sind. Inzwischen ist es nicht mehr so ungewöhnlich. Aber zu der Zeit, als das Buch in Südkorea erschien, 2013, war diese simple Kombination von Eigenschaften – eine alte Frau, die Auftragsmörderin ist – eine bahnbrechende Idee. Meine Absicht mit diesem Roman war wahrscheinlich nicht mehr als das: dieses Neuland zu betreten. Da die Protagonistin eine Auftragskillerin ist, werde ich viel zum Thriller- und Mysterygenre gefragt. Aber um die Wahrheit zu sagen: Ich bin da keine Expertin. Ich bin mit Krimis und Mystery-Romanen nicht vertraut und lese sie auch nicht wirklich. Mir gefallen eher Autoren wie Peter Handke und Thomas Bernhard. Warum ich dann über eine Auftragsmörderin geschrieben habe und nicht einfach über eine alternde Frau? Ich möchte gerne glauben, dass nicht alle Romane mit Auftragsmörderinnen Thriller sein müssen, sondern dass das vielleicht auch wieder nur ein Vorurteil ist. Aber natürlich hätte ich gern, dass meine Leser/innen den Roman unvoreingenommen genießen. Und es würde mich sehr glücklich machen, wenn dieses Buch es schaffen würde, sie vom Hocker zu reißen – wie es einem guten Genreroman gelingen würde.

Wir erfahren gerade einen veritablen Backlash, was Frauenrechte in aller Welt betrifft. Auch die Coronakrise hat Frauen wieder zurück an den Herd verbannt und die Gewalt gegenüber Frauen rasant ansteigen lassen. Wie können wir die Situation von Frauen wirklich verbessern?

Am dringlichsten ist es im Moment, dass Frauen die Kontrolle über ihren Körper zurückbekommen, ein Recht auf Abtreibung haben. Aber für einen Dialog auf breiterer Basis, um über globale Veränderungen zu sprechen, über gesellschaftliche Konstruktionen und Institutionen, brauchen wir Expert/innen in den verschiedensten Feldern, Soziolog/innen, Wirtschaftler/innen und Wissenschaftler/innen, die mehr Einblicke geben. Die Rolle der Literatur ist es, die Übel der Welt aufzudecken, nicht Heilung oder eine Lösung anzubieten. Die Frauenbewegung ist nur langsam vorangekommen, Schritt für Schritt. Aber der größte erkennbare Unterschied zu früher ist, dass die modernen Frauen nicht mehr auf dem Scheiterhaufen landen, nur weil sie lesen und studieren. Und dafür haben wir 400 Jahre gebraucht. In Südkorea fordern viele Menschen nun eine Umsetzung von Antidiskriminierungsgesetzen. Eine solche rechtliche Maßnahme könnte entscheidend werden für unsere künftigen Schritte.

Wir im Westen sehen meist nur die schöne oder geschönte Seite Südkoreas (meine Tochter z. B. ist ein großer Fan von K-Pop). Aber Kritiker/innen sagen, dass die perfekte, hochtechnologisierte Welt und Wirtschaftsmacht, die gezeigt wird, ihre Schattenseiten hat: Ausbeutung, Depression, manchmal sogar Suizid. Ihr Wort dazu?  

In Südkorea kämpfen immer noch zahlreiche Arbeiter/innen gegen Konzerne um ihr Recht auf humane Arbeitsbedingungen – eine Mindestpausenzeit, einen Pausenbereich und Essen. Gefahren am Arbeitsplatz durch Personalknappheit, Zeitdruck, unzureichende Ausstattung und unsicheres Arbeitsumfeld führen zu tragischen Unfällen, manche kosten die Arbeiter/innen sogar ihr Leben. Und Menschen mit Beeinträchtigungen kämpfen für ihr Recht, sich hindernisfrei in ihrer Umwelt zu bewegen. Aber viele Leute wollen die Kämpfe und den Schmerz der Arbeitnehmenden und der Menschen mit Beeinträchtigungen nicht sehen und sie stattdessen ruhig halten. Diese Leute geben vor, deren Existenz anzuerkennen, aber sie wollen sie im Dunkeln lassen, unsichtbar, und verlangen von ihnen, keine Unannehmlichkeiten zu verursachen oder die »Normalität« ihres eigenen Lebens zu bedrohen. All das zeigt den Hass, der vorherrscht: Hass auf Frauen, Hass auf Menschen mit Beeinträchtigungen, Hass auf nichtheteronormative Menschen, Hass auf die Unterprivilegierten, Hass auf Fremde, Arbeiter/innen und Kinder. Was auch immer problematisch ist in Südkoreas Gesellschaft oder Kultur – die Wurzel dieses Problems ist fast immer Hass.

Wie sieht es denn mit den Frauenrechten, mit der Stellung der Frauen in Südkorea aus? Sehen Sie Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung?

Im Moment gibt es keine Fortschritte, was die Menschenrechtssituation in Südkorea betrifft. Die Regierung operiert auf der Grundlage einer sehr vertikalen Hierarchie, und was ihre Unterstützung, Förderung der Gleichstellung betrifft – das sind nur leere Worte. In Wirklichkeit werden Frauen ganz einfach übersehen und von der Spitze der sozialen Leiter in wichtigen Sektoren wie Politik und Konzernvorständen aktiv ausgeschlossen. Wenn Frauen einmal tatsächlich miteinbezogen werden, dann entweder als Alibi-Anhängsel, als Accessoire oder als kalkulierte PR-Maßnahme. Das Einzige, was die Regierung im Moment an Frauen interessiert, ist die Steigerung der nationalen Geburtenrate – junge Frauen dazu zu bringen, mehr Kinder zu bekommen. Es gibt kein Gespräch über mehr Möglichkeiten, Erfolg oder Sicherheit für diese Frauen. Es ist, als ob Frauen im gegenwärtigen Südkorea keine Menschen sind, sondern Vieh, das nur zum Reproduzieren und Steuerzahlen da ist. Es ist daher überhaupt nicht überraschend, dass junge Frauen vor Ehe und Kindern zurückscheuen. Es ist ein Schrei nach Menschenwürde – und wenn es bedeutet, dass alle Südkoreaner/innen aussterben und sie die allerletzte Generation sind.

Sind Hornclaws vermeintliche Schwächen, ihre mit dem Alter wachsenden Gefühle für den Doktor und dessen Familie oder für ihren Hund in Wirklichkeit nicht Stärken? Wie sehen Sie das?

Jede Beziehung im Leben bedeutet immer zugleich Schwäche und Stärke. Wenn man seine Familie über alles liebt, dann ist die Familie für einen zugleich eine Quelle der Stärke, aber sie kann manchmal auch eine Belastung sein. Wie Samuel Beckett sagte: Im Leben geht es darum, »besser zu scheitern«, die Spannung zwischen diesen zwei gegenteiligen Kräften zu halten, hin- und herzupendeln und jedes Mal ein bisschen weniger zu scheitern.

Ich fand die letzte Szene im Buch, die ich den Leser/innen allerdings nicht verraten möchte, sehr schön und ermutigend. Wie können wir in Würde und mit Freude altern?

Altern ist im Wesentlichen eine biologische Frage. Individuelle Würde inmitten des Alterungsprozesses kann nicht nur durch eine bestimmte Denkweise entstehen. Mit dem Älterwerden kommen meistens weniger finanzielle Sicherheit, Krankheit und eingeschränkte Mobilität einher. Streng genommen fällt Hornclaw nach heutigen Kriterien gar nicht mehr in die Kategorie »alt«. Und sie ist, angefangen mit ihrer ungewöhnlichen Beschäftigung, alles andere als durchschnittlich. Die Menschen suchen manchmal nach Vorträgen über den Tod, um Antworten zu finden, wie man in Würde stirbt, und um mit der Unausweichlichkeit des Todes fertig zu werden. Aber wenn eine Gesellschaft es befürwortet, dass jede/r selber dafür verantwortlich ist, seinen Frieden mit dem Tod und dem Prozess des Älterwerdens zu machen und das von unserer Geisteshaltung abhängig macht, dann lehnt man die Vorstellung, dass das Altern ein natürlicher Lauf der Dinge ist, ab. Dann wälzt man die ganze Verantwortung für all das, was mit dem Altern einhergeht – finanzielle Schwierigkeiten, eingeschränkte Gesundheit – auf den Einzelnen oder die Einzelne ab und stellt die Rolle der Gesellschaft, seine älteren Bürger/innen zu unterstützen, hintan. Damit jede/r von uns positiver über das Altwerden und den Tod denkt, muss vor allem unsere Gesellschaft eingreifen und politische Maßnahmen und Strukturen setzen, die uns mit dem Prozess des »guten Sterbens« helfen.


Die südkoreanische Autorin Gu Byeong-mo wurde 1976 geboren. 2009 bekam sie den Changbi-Preis für Jugendliteratur. 2015 wurde sie für ihre erste Sammlung literarischer Erzählungen mit dem Today’s Writer Award ausgezeichnet.

Frau mit Messer
Ü: Wibke Kuhn
Ullstein, 288 S.