Susanne Rettenwander, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, sichtete im vergangenen Jahr mitunter auch den Nachlass Friederike Mayröckers. Für Buchkultur las sie das Interview mit der Autorin aus Buchkultur Ausgabe 22 erneut und erinnert sich an die Arbeit in Mayröckers Wohnung in Wien. Foto: Martin Vukovits.


»plötzlich aufgerufen bei meinem Namen /
steh ich nicht länger im windstillen Panorama /
[…] sondern drehe mich wie ein schrecklich glühendes Rad /
einen steilen Abhang hinunter«

In diesen Versen des im Interview kurz erwähnten Gedichts »Der Aufruf« (1974) entfaltet Friederike Mayröcker selbstreferenziell ihre Erweckung als Sprachkünstlerin. Ein plötzlich über das lyrische Ich einbrechendes Andere ruft nach ihm, reißt es jäh aus seinem Trott. Das Stillleben gerät aus den Fugen, denn das lyrische Ich regt sich, bewegt sich und beschleunigt sich aus sich selbst heraus. Es wird schneller, rasend wirbelt es durch die Welt. Mayröckers Auffassung vom Schreiben als ein unaufhaltsamer Prozess im Inneren, der von Äußerem angestoßen wird und wiederum auf Äußeres einwirkt, versteht sich als Bedrohung und Rettung zugleich. Schreiben bedeutet zunächst, gewaltsam aus geordneten Verhältnissen herausgerissen und mit dem einfallenden Chaos mitgerissen zu werden. Schreiben ist allerdings auch ein Bewältigungsmechanismus, ein Instrument, um dem Chaos eine Struktur zu verleihen und – wie sie der Literaturvermittlerin und Schriftstellerin Traute Foresti bestätigt – nicht verrückt zu werden. Und schließlich gewährt das Geschriebene Zuflucht. Ihre vielen unterschiedlichen, in ihrem Werk verstreuten Ichpersonen sind das Resultat eines Spiels mit der Biografie bis hin zur »Biographielosigkeit«, hinter der die Autorin verschwinden kann.

Ihr Tod, der sich am 4. Juni 2022 zum ersten Mal jährte, beendete das Schreiben, nicht aber ohne es gleichermaßen neu zu beleben. Neben fast 100 publizierten Werken hinterließ Mayröcker in der Zentagasse des 5. Wiener Gemeindebezirks ihr Schreibrefugium, das als außergewöhnliches »Zetteluniversum« gilt. Ihre eigenwillige Schreibpraxis, mit bunten Stiften Zettelchen und Alltagsutensilien wie Servietten, Pappteller, Supermarkt-Rechnungen zu bekritzeln und die Texte später mit der geliebten Schreibmaschine »Hermes Baby« in Reinschrift zu tippen, produzierte über Jahrzehnte hinweg eine überwältigende literarische Materialfülle. Diese breitete sich in unzähligen staubigen Papierstapeln und mit Wäscheklammern befestigten Zettel-Girlanden in den Wohnungen aus. Innerhalb der letzten zwei Jahre wurden die Materialien Schicht für Schicht abgetragen, behutsam gereinigt, in Seidenpapier gewickelt und in das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek transportiert. Dort werden sie fachgerecht archiviert, inhaltlich ausgewertet und sukzessive zur Verfügung gestellt. Der Nachlass, das mächtige Äußere des Schreibens, bietet nun die Möglichkeit, sich dem Inneren einer großen Dichterin anzunähern.


Foto: Martin Vukovits

Das ist ein Bild von mir

Friederike Mayröckers Bücher zählen zu den schwierigsten und interessantesten der deutschen Sprache. Mit der großen Schriftstellerin führte Traute Foresti 1993 ein längeres Gespräch über ihr Werk, das wir in Auszügen in Buchkultur 22 wiedergaben.


Buchkultur: Das Bild der Friederike Mayröcker bleibt in ihrer Dichtung häufig streng hermetisch eingeschlossen in Metaphern. Erstmalig massiv spürbar in ihrem Gedichtband »Tod durch Musen«, der Texte aus dem Zeitraum 1945-65 beinhaltet. Kann ich nun ein wenig von Ihrem Weg vom Konkreten hin zu dieser hermetischen Dichtung erfahren?

Friederike Mayröcker: Ja, ich bin sehr froh, dass Sie das erwähnen: das Verschwinden hinter dem Werk. Es war immer mein Wunsch, dass die Person hinter dem Werk verschwindet. Ich habe das meine »Biographielosigkeit« genannt, ein Wort, das auch oft zitiert wurde. Was die, wie Sie es nennen, konkrete Phase betrifft – ich würde es die »naive« nennen: Schon 1939 habe ich Gedichte in ein Album geschrieben, mit der Hand, das waren meine ersten Versuche. Die ersten richtigen Gedichte wurden dann 1966 veröffentlicht von Rowohlt, »Tod durch Musen«. 1954 ist ein Buch mit kurzer Prosa, Impressionen erschienen, in Wien, das war im Berglandverlag und ist total untergegangen. Bis einschließlich »Tod durch Musen« ist das meine sogenannte unschuldige, naive Phase, in der ich emotional gearbeitet habe, ohne mir besondere Gedanken zu machen über das Formale.

Dichtung ist jeweils ein ganz persönlicher Spiegel des Lebens, Paradigma für alle inneren und äußeren Vorgänge in der Welt. Ist die Verklausulierung, das Verstecken hinter kunstvollen Bildern ident mit einer gewissen Lebensangst, einer Scheu, sich zu deklarieren – oder ist es einfach Freude an l’art pour l’art, am Experiment mit Wörtern, Metaphern?

Es gibt ein frühes Gedicht von mir, »Der Aufruf«, da schreibe ich darüber: dass es einmal diesen Appell gegeben hat, dass ich schreiben soll, diesen inneren Aufruf. Wenn man einmal diesen inneren Aufruf empfangen hat, dann kann man nicht mehr los. Dass einem das Schreiben natürlich über vieles hinweghilft, das ist allgemein bekannt; natürlich auch von Psychiatern bewiesen und anerkannt. Es ist nur so … ich habe irgendeinmal geschrieben, dass, hätte ich da Schreiben nicht, ich schon verrückt geworden sein müsste. Es hilft einem das Schreiben zu leben.

Arbeiten ist eine immer strenge Disziplin, wobei ich sagen muss, die Disziplin ist gleich Leidenschaft. Das Schreiben ist gleichzeitig die große Herausforderung, die große Lust und gleichzeitig die große Disziplin. Schreiben nur aus Lust, nur aus Liebe, da wird nicht draus, das bleibt Dilettantismus. Schreiben nur aus Disziplin, da wird nicht draus, da werden dann diese wissenschaftlichen Abhandlungen und die mittelmäßigen Geschichten. Die Außenwelt muss sich mit der Innenwelt verschwenden, die Innenwelt mit der Außenwelt, es muss zuerst von außen nach innen gehen und von innen nach außen. Das steht auch in meiner Roswitha-von-Gandersheim-Rede. Es geht nicht, dass man glaubt, man kann jetzt nur von innen schreiben, das ist völlig falsch; es muss diesen Austausch geben.

Erst die Impression und dann …

Nicht nur Impression. Was von außen nach innen geht, das wird dann verarbeitet und nach außen geschleudert und so lange daran gearbeitet, bis die Sache wirklich eine strenge Form hat. Jede subjektive Sache ist Dilettantismus. Es muss das Subjektive umgewandelt werden in das Objektive.

Jetzt streife ich »Das Licht in der Landschaft«, eine Prosa, immer wiederkehrend darin Briefwechsel mit M.W. und die Figur des »Weltbiographen«. Träume, Erinnerungen, Rückblendungen, dabei immer neu Einsteigen in dieselben Sequenzen. Fast wie in einem Vexierbild muss man suchen. 1976 »Fast ein Frühling des Markus M«. Ein inwendiger Dialog zwischen Markus und Hilda ist der »Aufhänger«. Darin spielt, weitere Randfiguren einbezogen, das ganze Instrumentarium der Friederike Mayröcker: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft auf den Punkt gebracht. Ein Mikrokosmos – keine Story. Sie mögen nicht »erzählen«, für Sie ist das vorbei. Warum?

Ja, ich empfinde das Erzählen als einen Anachronismus, der nicht mehr in unsere Kunstwelt hineingehört. Da haben wir die wunderbare alte Kunst, haben wir stapelweise alte Literatur, die ich sehr gerne lese, einen Jean Paul … man kann anfangen, wo man will. Aber die heutige Kunst fordert etwas anderes. Ich weise nur hin auf die neuere französische Literatur, wo mit dem Erzählen schon lange aufgeräumt wurde. Wer heute noch erzählt, der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er hinter der Zeit ist. Natürlich gibt es Leute, die sehr gerne eine Erzählung lesen, die wollen eine Story … Ich habe das immer abgelehnt, und ich weiß natürlich, dass ich für eine Minderheit schreibe, dass das Leserpublikum überwiegend so etwas sucht wie eine Erzählung. Aber schon Gertrud Stein, die lange tot ist, hat mit dem sogenannten Erzählen aufgeräumt. Ich sehe voraus, dass man wahrscheinlich in zehn bis zwanzig Jahren die ganze jetzige Literatur, die immer noch hängt an dem Erzählen, dass man das sicher nicht mehr konsumieren wird können. Die, die in zwanzig Jahren so weit sind, das sind die heute Zweijährigen, die werden sich eine andere Art von Literatur aussuchen als die narrative, als die althergebrachte, nur leider werde ich das nicht mehr erleben.


»Erzählen ist ein Anachronismus, der nicht mehr in unsere Kunstwelt hineinpasst.«


»Die Abschiede« 1980, eine Prosa, die unzählige kleine Verabschiedungen involviert in den letztlich großen, endgültigen. »Eine subtil montierte Psychomontage« nennt es Reinhard Priessnitz. »Reise durch die Nacht«, Prosa »Vivisektion eines armen Dilemmas« nannte das Liesl Ujvary in einer Besprechung. Auch »Das Herzzerreißende der Dinge« würde hierhergehören. Zitat Friederike Mayröcker: »An der ganzen Menschheit interessiert mich im Grunde nur ein Mensch, und der bin ich.« Ist demnach Ihre Kunst eine Art selbsttherapeutische Aufarbeitung des Lebens in höchst artifizieller Form, in welcher das Verschleiern des Symptoms Methode geworden ist?

Ja. Dem ganzen muss man folgendes vorausschicken: Fast alle meine Bücher sind zum Teil mit einer lchperson ausgestattet, meine Prosabücher, und die Ichperson deckt sich nicht mit der Person des Schreibenden. Ich habe das einmal formuliert mit dem Satz »das bin nicht ich, das ist ein Bild von mir«, und wenn man es also versteht, dass die lchperson gleichzeitig der Schreibende ist, dann hat man es von vornherein nicht verstanden, das wäre auch allzu grob und käme einer Enthüllung eines privaten Bereichs gleich, und vor allem ist das dann nicht Kunst. Man verwendet natürlich autobiographische Züge, man bezieht aber auch alles mit ein, man bezieht die ganze Welt mit ein und kann natürlich auch vom eigenen Leben sehr viel einbringen, weil man das am allergenauesten kennt.


»Nur wenn etwas in eine objektivierte Atmosphäre gestellt ist, darf es den Anspruch erheben, ein Kunstwerk zu sein. Sonst könnte ich gleich private Tagebuchblätter schreiben.«


Aber der Satz »Von allen Menschen auf der Welt interessiert mich nur einer, und das bin ich«, das dürfte man keinesfalls als autobiographischen Satz auffassen, das würde die Sache in ein ganz falsches Licht rücken und würde dem Werk nicht gerecht werden.

Aber vielleicht doch die Aufarbeitung. Es muss ja fast so sein: eine Weltschau von Ihnen aus gesehen. Man kann ja von sich nicht so weit abrücken …

Nein, da bin ich eben anderer Ansicht. Das ist eben diese für mich so abstoßende, subjektive Schreiben, das geht heute nicht mehr.

Aber warum sagen Sie dann, es interessiert Sie im Grunde nur ein Mensch, und der sind Sie?

Das ist ein Objekt von Kunst dieser Satz, das sag‘ nicht ich. Die Ichperson deckt sich eben keineswegs mit dem Schreibenden. Das heißt: Diese lchperson sagt das, und die sagt auch alles Mögliche, die sagt Dinge, die ich irgendwann einmal einbringe, notiere. Ich notiere ununterbrochen. Und alles Subjektive, was man erfährt als Mensch und als Schreibender, muss verwandelt werden ins Objektive. Ich glaube, am deutlichsten wird es in »mein Herz mein Zimmer mein Name«, wo auch wieder eine lchperson vorkommt …

»mein Herz mein Zimmer mein Name« – eine Prosa in einem Satz über 336 Seiten. Sie kommt mir vor wie ein Lebensfaden, der beginnt, abspult und nicht endet. Ein Ohrenbeichtvater taucht auf, wie eine ständige Bezugsperson, ein Vertrauter. In diesem Buch sind Sie präsent und doch so, als wären Sie die Beschauerin Ihrer selbst. Wie sehen Sie das?

Von Prosawerk zu Prosawerk wird die Sache immer objektivierter, alles, was persönlich scheint, ist eigentlich in eine objektivierte Entfernung gerückt, das heißt, es geht nur um die Sprache als Kunst. Sowie ein Bildhauer eine Plastik herstellt, ein Maler ein Bild, das nicht unbedingt ihn selbst abbildet. E ist also ein Kunstwerk aus Sprache. Wenn ein Ohrenbeichtvater vorkommt, wenn ein Samuel vorkommt – was übrigens im »Stilleben« eine Hommage an Samuel Beckett ist –, dann ist das sozusagen verwandelt in Personen. Die Personen haben auch ein gewisses Leben in diesen Büchern, tragen aber zum Teil meine eigenen Züge. Also wenn autobiographisch, dann tragen die Personen, nicht die lchpersonen, das Autobiographische. Es ist auch in »je ein umwölkter gipfel« so. Da ist immer abwechselnd er oder sie. Da haben immer alle gedacht, das was er sagt, ist der Ernst Jandl, das was sie sagt, muss ich sein. Das ist das Missverständnis. lm Gegenteil, das was er sagt in Gesprächen, das hab‘ ich gesagt – wenn überhaupt. Man muss das nicht so eingeschränkt sehen. Wenn zufällig der Autor ein weiblicher ist, muss er das nicht von einer femininen Sicht her machen, sondern das ist etwas, was in eine objektivierte Atmosphäre gestellt ist. Nur dann darf es den Anspruch erheben, ein Kunstwerk zu sein. Sonst könnte ich gleich private Tagebuchblätter schreiben.

Literaturtipps

Stilleben. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991. 224 Seiten, öS 265,-/DM 34,-

Blumenwerk. ländliches Journal/Deinzendorf. Mit 30 Abb. von Bodo Hell. Bibliothek der Provinz, Weitra 1992. 120 Seiten, öS 298,-/DM 43,-