Ein bisschen Weinen
Ein Buch sechs Jahre nach der Lektüre zu rezensieren, zeugt nicht gerade von kritischer Sachlichkeit. Aber irgendwelche Gründe muss es ja haben, dass Hanya Yanagiharas »A Little Life« in den Gedächtnissen geblieben ist und es in die Jahrhundertcharts geschafft hat (übrigens auch beim englischen Guardian, da allerdings nur auf Platz 96). Im vorliegenden Fall gehört dazu gewiss nicht die reichlich unspektakuläre Sprache der Autorin, wohl aber die Zeichnung ihrer Figuren. Mit größter Selbstverständlichkeit leben sie im New York der Obama-Ära, einer von Homophobie und Rassismus weitgehend verschonten Zeit, und lieben – nicht aufgrund gesellschaftlicher Konventionen, sondern weil sie in sich hineinhören. Der eine, Jude, kann gar nicht lieben, sich nicht und auch sonst niemanden. Das hat mit seiner Vergangenheit als Waise und Schützling eines diabolischen Mönchs zu tun, die den Leser/innen nach und nach offengelegt wird. So erhalten wir umfassende Einblicke in die Mechanismen von Schmerz und Verschlossenheit eines komplexen Menschen, die – das dürfte eine weitere Besonderheit dieses Romans ausmachen – den anderen Figuren im Buch verwehrt bleiben. Die Vertraulichkeit kommt aber mit einem Preis: Wie kaum woanders spüren wir lesend den dringenden Wunsch, Jude aus seinem Trauma herauszuhelfen, und zugleich die niederschmetternde Wahrheit, dass dies nicht möglich ist. Da will man jede literaturkritische Abgebrühtheit über Bord werfen und einfach nur hemmungslos schluchzen. Und deshalb ist »Ein wenig Leben« große Fiktion. (Martin Thomas Pesl)
Hanya Yanagihara
Ein wenig Leben
Ü: Stephan Kleiner
Hanser 2015, 960 S.
Fan Fiction Fun
Lektüre ist ein beliebtes Small-Talk-Thema. Je nach Genre lässt sich der oder die Bekennende schematisch einteilen: als oberflächlich, tiefgründig, kopflastig, schlicht … So entwickeln die meisten Lesenden im Laufe ihrer Lesegeschichte Vorlieben für bestimmte Autor/innen, Genres, Themen, und damit oft Vorbehalte gegenüber anderen Formaten, Stilen, Inhalten. David Mitchells geradezu parodistisch anmutendes Spiel mit Genres und Plots wirkt dem entgegen und mischt alle Schemata gehörig auf. Mit der Verve, mit der in Fan-Fiction-Communities die Abenteuer von Sherlock Holmes, Old Shatterhand oder Harry Potter im Stil ihrer Schöpfer/innen weitergeschrieben werden, schüttelt er Gattungen aus dem Ärmel und durcheinander. Die gestelzte Sprache eines Abenteuerromans, die befremdliche Subjektivität von Briefen, das wechselhafte Tempo eines Thrillers, die Wehleidigkeit von Memoiren werden bis zur Vorwegnahme einer zukünftigen Ausdrucksweise im Zentrum der Stilzwiebel hintereinander eingesetzt. Daran knüpfen wie die Hälften einer Matroschka-Puppe die zweiten Teile der Geschichten an. Jede Episode endet abrupt, dennoch findet sich in der folgenden früher oder später ein Anknüpfungspunkt. Es ist weniger das durchgehende Thema der Unterdrückung von Sklaven, Homosexuellen oder Menschenklonen, das diesen Roman zu Weltliteratur macht, als die Virtuosität der Form. Das lässt sich auch daran ermessen, dass die Verfilmung in vieler Hinsicht von der Romanvorlage abweichen musste, denn die Raffinesse, mit der David Mitchell das Medium Text einsetzt, wäre niemals adäquat in ein anderes Medium übersetzbar. (Christa Nebenführ)
David Mitchell
Der Wolkenatlas
Ü: Volker Oldenburg
Rowohlt 2006, 672 S.
Brillant konstruiert: In »Indigo« verschwimmt Literarizität mit faktualem Erzählen
Ein junger Mathematiklehrer namens Clemens J. Setz recherchiert zu sogenannten Indigo-Kindern, die bei ihren Eltern und nahestehenden Personen krankheitswertige Symptome (Übelkeit, Kopfschmerzen, Sehstörungen) verursachen. Viel mehr passiert auf der Handlungsebene kaum, und doch ist »Indigo« von Clemens J. Setz ein so ungewöhnlicher, verspielter, labyrinthischer und in sich verschachtelter Roman, dass er fraglos eine Herausforderung ist, aber eben eine von den guten. Das liegt vor allem an den nahezu erschöpfend eingesetzten auto- und metafiktionalen Elementen, die den Text in einem ständigen (vermeintlichen) Spannungsfeld
zwischen Literarizität und faktualem Erzählen oszillieren lassen. Dazu gehören angebliche historische Dokumente über die Indigo-Kinder, Lexikoneinträge, Zeitschriftenartikel oder Patientenberichte, auf deren scheinbare Authentizität Setz auch gestalterisch Wert legt. Vereinzelt bezieht sich der Text aber auch auf real existierende Bücher und jubelt ihnen fiktive Texte unter. Der Roman steckt voller Anspielungen und ist bereits geprägt von den setztypischen Wortschöpfungen und assoziativen Erzählschleifen, die sich auch in späteren Werken finden. Die fiktionale und die vermeintlich faktuale Ebene beglaubigen sich in ihren Feedbackschleifen immer wieder gegenseitig. »Indigo« ist erzählerisch hochgradig innovativ, brillant konstruiert, ein Wunderwerk von einem Buch. Es nicht in einen Kanon jüngster Literaturgeschichte aufzunehmen, wäre ein herber Verlust. (Sophie Weigand)
Clemens J. Setz
Indigo
Suhrkamp 2012, 480 S.
Das satirische Epos »Herr der Krähen« – eines der großen Bücher der Menschheit
Vermutlich ist es ehrenhaft, in der Reihe mit James Joyce, Marcel
Proust, Jorge Luis Borges oder Franz Kafka zu stehen, also in der Tradition, den Literaturnobelpreis nicht bekommen zu haben. Kann ja noch werden, sagen wir seit mindestens fünfzehn Jahren, aber so recht glauben möchte das niemand mehr. 2006 erschien nämlich Ngũgĩ wa Thiongos »Herr der Krähen«, eines jener seltenen Werke, die sich, für jeden evident, in die Reihe der ganz großen Literatur dieser Welt einschreiben. Der 1938 in Kenia geborene Autor, der diesen Jahrhundertroman zunächst auf Gikuyu geschrieben (und dann ins Englische übersetzt) hat, setzt schon damit einen starken Akzent: Dies ist ein afrikanischer, ein kenianischer Roman, der in einer nichteuropäischen, nämlich spezifisch oralen Erzähltradition steht. Auch wenn er ganz und gar zeitgenössische Themen behandelt: Er erzählt von einem Tyrannen, der sich mit dem globalisierten Kapitalismus einlässt, und damit mehrere Katastrophen lostritt, deren er nicht mehr Herr wird. Das ist vor allem sehr komisch und damit sehr subversiv, mobilisiert eine unfassliche erzählerische Kraft und ist somit ein global gültiger Kommentar zur Situation auf diesem Planeten. Eine schwarzafrikanische Stimme, die mit selbstverständlicher Autorität weltweite Bedeutung beansprucht. Unbequem, scharfsinnig, komplex, originell und dazu noch extrem unterhaltsam. Das ist schon fast die Quadratur des Kreises, ein Hammer von einem Buch mit einem Wirkungskreis, der auch ohne Nobelpreis auskommt. (Thomas Wörtche)
Ngũgĩ wa Thiong’o
Herr der Krähen
Ü: Thomas Brückner
A1 Verlag 2011, Fischer TB 2013, 944 S.
Eine Reise ins eigene Ich, verpackt in eine spannende Spurensuche
Mit dem »Nachtzug nach Lissabon« ist Pascal Mercier – dem literarischen Alter Ego des Schweizer Philosophen Peter Bieri – ein Roman gelungen, der Spannung, eine zeitgeschichtliche Lektion und existenzialistisches Nachdenken über das Leben in einem exzellent konzipierten und geschriebenen Text vereint. Erzählt wird die Geschichte des Berner Gymnasialprofessors Raimund Gregorius, der durch einen vereitelten Selbstmord einer hübschen Portugiesin und ein antiquarisches Buch des (fiktiven) portugiesischen Arztes, Widerstandkämpfers und Philosophen Amadeu Prado jäh aus seinem Alltag gerissen wird. Er will mehr wissen und macht sich auf eine Reise nach Lissabon – die gleichzeitig zu einer Reise in sein Innerstes wird. Seine Recherchen führen ihn in die dunkle Zeit der Salazar-Diktatur, er lernt Menschen kennen, die ihm neue Sichtweisen auf unsere Existenz vermitteln, er krempelt sein Leben komplett um. Wie stark der Plot des 2004 erschienen Bestsellers ist, zeigt sich auch darin, dass eine Verfilmung trotz starker Eingriffe in die Handlung und in den Gedankenstrom des Autors gut funktioniert. Wie ein Puzzle fügen sich die verschiedenen Erzählebenen zu Antworten auf die Frage nach dem »richtigen« Leben. Warum lebt man genau jenes Leben, das man lebt? Was ist mit den vielen anderen möglichen Lebenswegen, die man hätte einschlagen können? Das sind Fragen, die gerade heute brisant sind – in einer Zeit, in der scheinbar alle Möglichkeiten offenstehen und sich die Menschen dennoch in angeblich Unveränderliches eingezwängt sehen. (Martin Kugler)
Pascal Mercier
Nachtzug nach Lissabon
Hanser 2004, 496 S.