Aeneas Rooch fasst mit seiner Einführung in die Mengenlehre zahlreiche Überlegungen zu einer der wichtigsten Forschungsfragen der Mathematik informativ und unterhaltsam zusammen.
Die Unendlichkeit ist ein weites Feld – wohl gar das weiteste. Und was keine Grenzen hat, kann man doch auch nicht vollständig betrachten? Über lange Zeit befand die Mathematik: Ja, die Unendlichkeit existiert, aber wissenschaftlich fassbar ist sie nicht. So schreibt Aeneas Rooch in »Die Entdeckung der Unendlichkeit. Das Jahrhundert, in dem sich die Mathematik neu erfand«: »Das fertige Unendliche kann man einfach nicht erforschen oder begreifen, da waren sich Theologen und Mathematiker einig.« Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte jemand diese Gewissheit infrage und wirbelte damit im Reich der Zahlen viel Staub auf. Die Rede ist von dem deutschen Mathematiker Georg Cantor, dem Begründer der Mengenlehre: »Im Jahr 1873, als der französische Schriftsteller Jules Verne seinen Helden Phileas Fogg in 80 Tagen um die Welt reisen ließ, reiste Cantor in Gedanken durch die Welt der unendlichen Mengen. Er dachte über Brüche nach und verglich sie mit den natürlichen Zahlen, die er als einfachste Form der Unendlichkeit ansah und als Maßstab anlegte.« Worauf er dabei stieß, sollte die Mathematik für immer verändern: »Es gibt, so fand er heraus, nicht die eine unfassbare, unantastbare, unzugängliche Größe, die alles übersteigt und jede Vorstellung sprengt – es gibt nicht die eine Unendlichkeit, sondern mehrere. Cantor stellte fest, dass es verschiedene Sorten von Unendlichkeit gibt, und mehr noch, dass man sogar mit ihnen rechnen kann. Unter der diffusen und ruhigen Oberfläche der Unendlichkeit wartete eine reiche und faszinierende Welt, und er war dabei, sie nach und nach zu entdecken.« Inzwischen ist das längst Erstsemesterstoff im Mathematikstudium. Wie aber bei wissenschaftlichen Pionieren häufig üblich, wurde auch Cantor anfangs nicht erhört. Was er abseits des wissenschaftlichen Großbetriebs an der unbedeutenden Provinzuniversität Halle ausgetüftelt hatte, wurde dagegen von zeitgenössischen Fachkollegen massiv attackiert und die Publikation seiner Erkenntnisse weitreichend verhindert: Die Ergebnisse des unbekannten Privatgelehrten bedeuteten nämlich die Erschütterung von Gewissheiten, auf denen das Fach eigentlich basierte – und das war unerhört. Was schon damals bei den größten Gelehrten ihrer Zeit die Köpfe rauchen ließ, ist natürlich auch für Laien von heute keine leichte Kost. Rooch stellt sich aber der Herausforderung, diese bahnbrechende Entdeckung einem breiteren Publikum verständlich zu machen, und legt hier eine anschauliche wie unterhaltsame Einführung in dieses komplexe Thema vor, wobei er sich selbst und sein Thema erfreulicherweise auch nicht zu ernst nimmt. In seinem Buch gibt Rooch aber nicht bloß Mathematiknachhilfe, sondern zeichnet auch ein historisches Panorama von einer Zeit, die in zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen von großen Umbrüchen geprägt war, und gibt biografische Einblicke in Cantors Leben wie auch in das der prominentesten Köpfe, die in Cantors Fußstapfen traten: David Hilbert, Albert Einstein und Kurt Gödel. Letzterer, der berühmte österreichische Logiker, war es wiederum, der rund 60 Jahre nachdem Cantor ermittelt hatte, dass wir sogar die Unendlichkeit sehr wohl erfassen können, einmal mehr alles auf den Kopf stellte, indem er laut Rooch zeigte: »Unsere Erkenntnis hat Grenzen. Es gibt Wahrheiten, die sich der Eroberung durch formale Schlüsse widersetzen können. Selbst die mächtige Mathematik mit ihrer logischen Strenge kann nicht alle Fragen beantworten.« Zumindest das könnte eine wahre Erkenntnis bis in alle Ewigkeit bleiben.
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Aeneas Rooch
Die Entdeckung der Unendlichkeit. Das Jahrhundert, in dem sich die Mathematik neu erfand. 1870—1970
Heyne, 416 S.
»Diese rund einhundert Jahre rund um dieses Rätsel fand ich eine ansprechende Grenze für die Unendlichkeit«
Aeneas Rooch im Gespräch mit Johannes Lau. Foto: © andreas ren photography
Was hat Sie zu diesem Buch inspiriert?
Die tragischen Lebensgeschichten und wegweisenden Erkenntnisse haben mich schon im Studium fasziniert. Da ist ein genialer Mathematiker, der etwas Unerhörtes und Unvorstellbares über unsere Zahlenwelt herausfindet, doch er wird für seine Arbeit ausgegrenzt und angegriffen. Da ist der bedeutendste Denker des 20. Jahrhunderts, der mit Logik beweist, dass man mit Logik nicht alles beweisen kann, doch kommt er nicht gegen die irrationalen Ängste an, die ihn quälen und in einen schaurigen Tod führen. Diese Geschichten wollte ich erzählen – und gleichzeitig zeigen, wie wunderschön Mathematik sein kann.
Was waren die größten Herausforderungen bei der Recherche?
Ich möchte ein Gefühl geben, wie mathematisches Denken funktioniert, wie man zu diesen bemerkenswerten Erkenntnisse kommt und vor allem dass man keine Scheu vor Mathematik zu haben braucht. Niemand muss das Fach gleich studieren! Das Buch so zu schreiben, dass man die Faszination spürt und man es auch als Laie versteht, es aber fachlich richtig ist, war nicht leicht.
Außerdem sollte die Erzählung historisch korrekt sein – sowohl was wichtige Ereignisse vom Kaiserreich bis in den Kalten Krieg angeht, als auch was die Persönlichkeiten und Lebenswege der Wissenschaftler betrifft. Gleichzeitig sollte es ganz ohne Erfundenes und Ausgeschmücktes spannend sein. Ich bin kein Historiker – das war schrecklich anstrengend.
Wo zieht man bei diesem Thema die Grenzen?
In den 1870er Jahren tauchte bei der Erforschung der Unendlichkeit an einer wichtigen Stelle eine kleine, unscheinbare Frage auf, doch sie stellte sich als überraschend widerspenstig heraus. Es dauerte fast bis 1970, bis eine Antwort gefunden werden konnte, und sie war krass. Diese rund einhundert Jahre rund um dieses Rätsel fand ich eine ansprechende Grenze für die Unendlichkeit.
Wie gelingt es Ihrer Meinung nach, ein so komplexes Thema unterhaltsam und für die breite Leserschaft verständlich zu gestalten?
Es geht um geniale Denker, tragische Schicksalsschläge, kauzige Charaktere, um Ungerechtigkeit, um Ruhm, um Scheitern … Es ist eine spannende Geschichte, auch für die, die in Mathe immer schlecht waren. In diese Geschichte bette ich die Mathematik ein, ganz behutsam. Es geht um kuriose Fragen wie: Wieso sind mathematische Ergebnisse richtig? Und was sind eigentlich Zahlen? Und dann zeige ich viele grandiose Erkenntnisse – aber für die, die es mathematisch zu arg finden könnten, habe ich sowas vorsichtshalber in eine Nerd-Zone gepackt, die getrost übersprungen werden kann.
Ihr Buch endet 1970. Ist eine Art Fortsetzung geplant?
«Die Fortsetzung der Unendlichkeit« finde ich sprachlich schon mal charmant.
Aeneas Rooch, geboren 1983, hat Mathematik und Physik studiert. Er arbeitet in der Softwarebranche und ist als freier Wissenschaftsjournalist tätig.