Ich kam 1950 als Elfjährige aus Polen in die USA – ich hatte den Holocaust überlebt. Ich sprach kein Englisch, hatte kaum Schulbildung und fühlte mich fremd in diesem unbekannten Land. Alles was ich wollte, war, eine Verbindung zu meiner neuen Heimat zu finden. Ich begann Englisch zu lernen, meine Familie und ich wollten uns so schnell wie möglich einleben. Ich war unbeholfen, unsicher und einsam und ich dachte, wenn ich meine Geschichte mit den anderen Kindern teilen könnte, würde sich der Abstand zwischen uns verringern. Doch egal, wie sehr ich es versuchte, ich wurde mit Verachtung zurückgewiesen. Sogar meine Lehrerin in der siebten Klasse wies mich zurecht: »Bedecke deine Tätowierung, schneide deine Zöpfe ab und ändere deinen Namen. Du hast jetzt ein neues Leben«.
Mit zwölf fand ich meine erste echte Freundin. Lili war die Erste, die neugierig auf meine Geschichte war, und so erzählte ich ihr von einem der grausamsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte – vom Zweiten Weltkrieg und von meiner Reise in die Hölle. Es war ein schmerzhaftes, aber auch heilendes Gefühl, diese Last nicht mehr allein tragen zu müssen. Es dauerte 78 Jahre, bis ich in der Lage war, meine Memoiren aufzuschreiben. Meine Erzählung soll von der Kraft der Hoffnung berichten, von Liebe, Vertrauen und Selbstbehauptung inmitten von Terror und Grausamkeit, und sie feiern.
Meine frühesten Erinnerungen stammen aus dem Ghetto. Ich höre immer noch die Schüsse, als meine Großmutter vor unserer Wohnung ermordet wurde. Für Hitler war sie alt und nutzlos, für mich war sie Trost und Zuflucht. Erschießungen waren alltäglich, die Opfer meist Alte und Kinder – für Hitler unbrauchbare Teile der Bevölkerung.
Mein Überleben verdanke ich der Stärke und dem Mut meiner Eltern, besonders meiner Mutter, die mir stets die Wahrheit sagte. Sie schirmte mich von den grausamen Realitäten ab. Wissen, sagte sie, sei meine beste Waffe. Meine Erinnerungen sind fest in meinem Geist verankert und nicht mit der Zeit verblasst. Manchmal tauchen sie sogar in meinen Träumen auf. Ich sehe immer noch mein sechsjähriges Ich, das fest die Hand meiner Mutter hält. »Erinnere dich«, sagte sie und das tat ich und tue es immer noch.
Nach dem Arbeitslager in einer Munitionsfabrik wurden meine Mutter und ich schließlich nach Auschwitz gebracht, mein Vater nach Dachau. Ich lernte, meine Körperfunktionen zu kontrollieren, nie Schwäche zu zeigen und meine Essutensilien zu schützen. Meine Mutter zeigte auf die wandelnden Skelette vor den Gaskammern und sagte: »Schwäche wird hier nicht geduldet, also zeige niemals, dass du krank bist und verliere niemals deine Schüssel und deinen Löffel, sonst wirst du hungern.« Solange ich bei ihr war, fühlte ich mich geliebt und sicher. Kurz vor meinem sechsten Geburtstag wurden wir getrennt, aber dank ihr wusste ich, wie man überlebt.
Heute, als Therapeutin, weiß ich, wie wichtig es ist, dass Kinder nicht in Unwissenheit gelassen werden. Sie brauchen die Wahrheit, auch wenn sie schmerzhaft ist, um Stärke zu entwickeln. Unsere Kinder leben in einer turbulenten, beängstigenden Welt, die erklärt werden muss. Ich hoffe, dass meine Geschichte, »Wir Kinder von Auschwitz«, Gedanken und Gespräche über die Bedeutung von Selbsterkenntnis, Selbstständigkeit, Vertrauen und Hoffnung anregen. Und ich wünsche mir, dass junge Menschen durch sie erkennen können, dass jeder Mensch die Kraft zur Veränderung hat, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen.
Übersetzung Andrea Schnepf, Foto: privat.
Tova Friedman gehörte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu den 50.000 jüdischen Kindern der polnischen Stadt Tomaszow Mazowiecki. Nach Ende des Krieges war sie eines der fünf Kinder, die überlebten. Über ihre Erfahrungen im Krieg und im Lager spricht Tova Friedman regelmäßig, auch auf TikTok, wo sie mit ihren Videos schnell große Beliebtheit erlangte. Sie gehört heute zu den engagiertesten Stimmen gegen das Vergessen. Tova Friedman ist Psychotherapeutin und lebt in New Jersey.
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Tova Friedman
Wir Kinder von Auschwitz. Wie ich das Todeslager überlebte
Ü: Roman Stadler
cbt, 256 S.
ET: 15. Januar 2025
Ab 10