Das Aufwachsen mit mehreren kulturellen Identitäten bedeutet oft ein Spektrum von Annähern und Entfremden, von sich nicht zu Hause Fühlen und dann irgendwie wieder doch – und an mehreren Orten gleichzeitig. Die deutsche Autorin und Journalistin Khuê Pham behandelt in ihrem Roman „Wo auch immer ihr seid“ eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs. Sie webt darin ein Netz aus unterschiedlichen Perspektiven: Kiều, deren Vater Minh und ihr Onkel Sơn erzählen aus unterschiedlichen Ländern und Zeiten, sie stehen vor unterschiedlichen Konflikten, mit sich selbst und miteinander. Im Interview erzählt die Autorin von Rassismus in Deutschland, was sie aus der Arbeit an ihrem Buch gelernt hat und Parallelen zur Gegenwart. Foto: Alena Schmick.
(Da das Interview schriftlich geführt wurde, haben wir die Schreibweise der Autorin unverändert übernommen.)
Buchkultur: 2012 haben Sie gemeinsam mit Özlem Topcu und Alice Bota in „Wir neuen Deutschen“ über das Aufwachsen in Deutschland mit einem nicht-deutschen Hintergrund geschrieben. Neun Jahre sind seitdem vergangen. Was hat sich geändert? Hat sich überhaupt etwas geändert?
Khuê Pham: Es hat sich sehr viel verändert – zum Guten und zum Schlechten. Das Gute ist, dass es heute viel mehr Leute gibt als damals, die über diese Themen reden – Autor:innen, Politiker:innen, aber auch „ganz normale Leute“, die sich zum Beispiel Gedanken darüber machen, ob ihre Kinder in der Kita rassistische Lieder lernen. Gleichzeitig wurde die AfD gerade zum zweiten Mal in den deutschen Bundestag gewählt, in Sachsen und Thüringen war sie sogar stärkste Kraft. Alle paar Wochen entlädt sich diese Spannung zwischen Fortschritt und Rückschritt in einem neuen Kulturkampf, in dem es letztlich darum geht, wer in dieser neuen Gesellschaft dazugehört und wer das Sagen hat. Manchmal finde ich das sehr anstrengend.
Gerade seit Beginn der Corona-Pandemie wurde verstärkt über antiasiatischen Rassismus gesprochen. Wie erleben Sie die Diskussion?
Ich selbst habe während der Pandemie keinen Rassismus erlebt, habe aber von anderen Deutsch-Asiaten gehört, dass sie sich blöde Kommentare wie „Du Virus“ anhören mussten. Auch wenn der Anlass ein trauriger ist, finde ich es gut, dass die asiatische Community stärker in den Fokus gerückt ist, sich zu Wort gemeldet hat und das leidige Klischee widerlegt hat, Asiaten seien so „still“ und „fleißig“.
„Wo auch immer ihr seid“ befasst sich auf eine fiktionalisierte Art mit ähnlichen Themen wie „Wir neuen Deutschen“: Es geht um Herkunft, ambivalente Identität, familiäre Prägung. Wie ist es zu diesem Roman gekommen, bzw. was konnten Sie im Roman anders und besser erzählen?
Um dieses Buch zu schreiben, habe ich lange Interviews mit meinen Verwandten und mit Zeitzeugen des Vietnamkriegs geführt. Beim Schreiben wurde mir dann aber klar, dass dieses Buch mehr sein musste als die Dokumentation meiner eigenen Familie. Ich habe mich daher für die Form des Romans entschieden, weil ich mich dadurch nicht an die (oft komplizierten) Fakten halten musste, sondern Dinge sehr stark verdichten und verändern konnte. So ist die Geschichte einer Familie entstanden, die viele authentische Züge trägt, aber trotzdem etwas Universelles hat. Etwas, in dem sich hoffentlich auch viele Menschen aus ganz anderen Familien wiederfinden können.
Die Protagonistin Kim (die eigentlich Kiều heißt, sich aber aus Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten anders nennt) wächst in Deutschland auf und hat wenig direkten Bezug zu ihrem Herkunftsland Vietnam. Ihr Vietnamesisch ist schlecht und sie sitzt immer wieder zwischen den Stühlen; in Deutschland wird sie als Ausländerin wahrgenommen, dem Herkunftsland der Eltern ist sie aber auch nicht eng verbunden. Teilen Sie diese Erfahrung mit Ihrer Protagonistin?
Ich lehne Vietnam nicht so stark ab wie Kiều, aber ich kenne die Ambivalenz und Entfremdung dazu sehr gut. Auch der Widerspruch zwischen Selbstbild und Fremdbild ist mir sehr vertraut; gerade in meiner Jugend wurde ich ständig zur Ausländerin gemacht. Heute passiert mir das interessanterweise selten. Vielleicht, weil sich die Gesellschaft verändert hat. Vielleicht auch, weil ich durch meine Arbeit stärker „angekommen“ bin.
Der Roman begibt sich auf Spurensuche in die Vergangenheit der Familie. Er führt nach Vietnam zu Zeiten des Krieges, in die Vergangenheit von Kiềus Vater Minh und ihrem Onkel Sơn, aber auch in die bundesrepublikanische Studentenbewegung gegen den Vietnamkrieg. Haben die Recherchen für den Roman auch für Sie persönlich etwas verändert?
Ja! Ich habe sehr dramatische Geschichten über meine Verwandten erfahren, mit denen ich nicht gerechnet hatte – über die lebensgefährliche Flucht in den Westen oder die bittere Armut in den Jahren nach dem Sieg der Kommunisten. Ich habe aber auch einiges über die deutsche Geschichte gelernt und die Bekanntschaft mit Daniel Cohn-Bendit gemacht, der mir sehr freimütig von den 68ern und ihrer Naivität gegenüber dem Vietcong erzählt hat. Die Arbeit an dem Buch war für mich eine lange, harte, aber auch sehr bereichernde Zeit – ich empfinde es als Geschenk, dadurch so viel über mich selbst und „meine beiden Heimatländer“ Deutschland und Vietnam erfahren zu haben.
Mich haben die Szenen besonders beeindruckt, in denen die Wahrnehmung der Protagonist*innen von Vietnam dramatisch auseinanderklafft, die Innen- und Außenperspektive gewissermaßen kollidieren. Kiềus Vater Minh geht zum Studieren nach Deutschland und trifft auf Student*innen, die sich mit Hồ Chí Minh und den Kommunisten solidarisieren. Für ihn und seine Familie sind die Kommunisten bis dato Feinde gewesen. Wie erklärt sich dieser Konflikt?
Den politischen Konflikt hat es in meiner Familie tatsächlich gegeben – er hat mich schon immer fasziniert und war für mich ursprünglich der Kern dieses Buchs. Ganz am Anfang hatte ich die Idee, den Roman als Entzweiung von zwei Brüdern zu schreiben – von Minh, dem eingedeutschten Idealisten, und Sơn, der zurückbleibt und die Kommunisten hasst. Am Ende habe ich mich entschieden, durch die Ich-Erzählerin eine dritte Protagonistin einzubauen. Alle drei haben unterschiedliche Wahrnehmungen von Vietnam, alle drei sind dem Land irgendwie abhanden gekommen und füllen ihre eigenen Lücken durch Projektionen auf.
Im Roman werden auch die dramatischen Ereignisse um den Abzug der Amerikaner aus Vietnam geschildert. Zuletzt gab es in den Medien immer wieder bildliche Gegenüberstellungen dieser Szenen aus Saigon 1975 und den aktuellen Bildern aus Afghanistan. Haben Sie diese Parallelen auch gesehen?
Die Parallele zwischen dem Fall von Kabul und dem von Saigon lag für mich in der emotionalen Kraft dieser Bilder und der schreienden Frage, was aus den Menschen wird, die die Amerikaner nach vielen Jahren Krieg zurückgelassen haben. Die Kriege selbst sind meiner Meinung nach aber aus historischen und politischen Gründen zu komplex, um sie miteinander gleichzusetzen.
Kiều scheint es am Ende zu gelingen, sich selbst besser zu verorten. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund einer deutlich ungezwungener lebenden, vietnamesischen Community in den USA. Das eröffnet einen Raum, der nicht allein davon geprägt ist, sich möglichst bis zur Unsichtbarkeit anzupassen. Würden Sie das auch so sehen?
Absolut. Für mich ist es der Roman auch die Geschichte einer Befreiung.
Khuê Pham ist Journalistin und Autorin aus Berlin. Sie arbeitete unter anderem bei „The Guardian“ oder „Spiegel Online“. Heute ist sie Politikredakteurin bei der „Zeit“. Sie erhielt zahlreichre Journalistenpreise, darunter der Deutsche Reporterpreis. Mit dem Buch „Wir neuen Deutschen“ beschreibt Pham mit Alice Bota und Özlem Topcu das Großwerden in Deutschland mit interkulturellem Hintergrund.
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Khuê Pham
Wo auch immer ihr seid
btb, 304 S.