Unnachahmlich und unerreicht: Zu ihrem 90. Geburtstag beschenkt uns Ingrid Noll mit ihrem jüngsten Werk »Nachteule«, das von den fatalen Folgen einer toxischen Teenagerliebe erzählt. Foto: Monika Werneke
Die fünfzehnjährige, behütet aufgewachsene Luisa verfügt über eine besondere Gabe: Sie kann im Dunkeln sehen. Das macht sie aber auch zum leichten Opfer zwielichtiger Gestalten oder Einbrecher. Der obdachlose junge Mann, den sie ohne Wissen ihrer Adoptiveltern in der Sauna ihrer Eltern versteckt hält, stellt sich als nicht ganz so treuherzig heraus, wie er vorgibt. Doch Liebe macht bekanntlich blind. Wir gratulieren der Grande Dame des sanften Verbrechens zum Jubeltag und uns zu einem weiteren Glanzstück ihres Könnens!
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Buchkultur: Das Wichtigste zuerst: Wie geht es Ihnen?
Ingrid Noll: Im Vergleich zu vielen meiner Altersgenossen geht es mir gut, aber die körperliche »Materialermüdung« schreitet auch bei mir voran. Regeneration braucht länger, das Arbeitstempo lässt nach.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie dem runden Geburtstag entgegen? Schauen Sie mit Zufriedenheit zurück?
Da meine Großmutter 105 und meine Mutter 106 wurde, ist 90 ja eine Petitesse. Im Allgemeinen feiere ich die Geburtstage nur mit der Familie, diesmal kann ich mich nicht um eine etwas größere Feier drücken. Auf mein bisheriges Leben blicke ich zufrieden zurück, vor dem gut gemeinten Rummel ist mir ein wenig bange.
»Nachteule« ist eines Ihrer ungewöhnlichsten Bücher – auch weil Ihre Protagonistin noch so jung ist und daher auch sehr verletzlich und beeinflussbar. Ich glaube, es ist Ihre jüngste Protagonistin überhaupt? Mir kommt vor, dass sie am Ende doch sehr viel mehr Opfer ist als Ihre bisherigen Heldinnen. Was hat den Ausschlag für dieses Thema einer ersten, toxischen Liebe gegeben, wie Luisa es im Prolog selber sagt, und für diesen Roman? Wie kam diese Geschichte zu Ihnen? Und weshalb haftet der ersten Liebe oft so etwas Dramatisch-Unbedingtes an?
Wir alle waren irgendwann zum ersten Mal verliebt, wer kann sich nicht daran erinnern! Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, wie Goethe schon sagte. Es kann eine romantische und wunderschöne Zeit sein, aber in vielen Fällen ist die erste Verliebtheit eher platonisch. Junge Mädchen finden die schüchternen Jünglinge aus der Tanzstunde oft etwas langweilig, und deswegen können unkonventionelle, fragwürdige, geheimnisvolle oder auch viel ältere Männer auf Teenager einen besonderen Reiz ausüben. Mir persönlich blieben problematische Beziehungen zwar erspart, aber ich kenne einen dramatischen Fall aus meiner Jugendzeit und erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen. Gerade die behüteten, intelligenten und bisher nicht rebellierenden Mädchen können zum Opfer werden, wenn sie an den falschen Kerl geraten und sich eine spannende Alternative zu ihrem bürgerlich-angepassten Leben auftut.
Wie schaffen Sie es (ja auch schon in Ihren vorherigen Romanen), die Enkelgeneration und deren Probleme und Leben bis in die Jugendsprache hinein so authentisch und treffend zu beschreiben und sich so gut in sie einzufühlen? Und wie wichtig ist es, am Leben der Enkelgeneration dranzubleiben?
Mein großes Glück ist, dass meine vier Enkelkinder in der Nähe wohnen und ich sie deshalb häufig sehe. Nicht nur, weil ich ihre Großmutter bin, interessiert mich diese Generation. Wer weiß, was ihnen noch bevorsteht! Wie werden sie sich verhalten? Könnten sie ohne ihr Smartphone existieren?
Luisa findet Trost bei den Tieren im Garten und in der Nacht. Mich haben diese sehr schönen Schilderungen ein bisschen daran erinnert, was Sie einmal über Ihre Kindheit in China erzählt haben. Hat es Ihnen gutgetan, so relativ frei und unbeschwert, ohne (Schul-)Druck, mit einem großen Garten und Tieren aufzuwachsen (und fernab von dem Grauenvollen, das sich in Deutschland zu der Zeit zutrug)? Hat das Ihre Fantasie beflügelt? Hat Ihnen das später im Leben geholfen?
Als Kind lebte ich ein wenig wie ein Alien, wenn man es mit meinen Altersgenossen in Europa vergleicht. Das hatte Vor- und Nachteile, denn es gab später ein jähes Erwachen. Allerdings hatte ich wunderbare Geschwister, wir konnten unsere Kreativität nach Herzenslust ausleben. Schon als kleines Mädchen habe ich mir Geschichten ausgedacht und meine jüngeren Schwestern damit unterhalten.
»Die Wahrheit kann so unbarmherzig sein, dass man sie nicht jedem zumuten kann.«
Sind Sie eine Nachteule (im doppelten Sinn)? Kennen Sie Menschen mit dieser Gabe?
Leider (oder zum Glück?) bin ich keine Nachteule. Und die Gabe, auch im Dunkeln sehen zu können, ist eine reine Erfindung.
Soll man nun immer die Wahrheit sagen? Oder haben wir nicht alle eine (oder mehrere) Leiche(n) im Keller?
Die Wahrheit kann so unbarmherzig sein, dass man sie nicht jedem zumuten kann. Und unsere Kellerleichen dürfen dort auch bleiben und sollten nur im Notfall ans Tageslicht gezerrt werden.
Die Zahl Ihrer Opfer war immer überschaubar und Sie lassen diese schnell und schmerzlos sterben. »Gruß aus der Küche« kam sogar ohne einen Mord aus. Wird man mit dem Alter milder, ein bisschen friedfertiger?
Natürlich wird fast jeder irgendwann altersmilde. Abgesehen davon will ich auch nicht immer das gleiche Buch schreiben und muss dann vielleicht die Erwartungen blutrünstiger Leser etwas enttäuschen.
Man hat beim Lesen das Gefühl, dass Ihnen das Schreiben immer noch sehr große Freude macht und diese Freude überträgt sich auch. Ist das so und dürfen wir daher mit noch vielen weiteren Ingrid-Noll-Romanen rechnen? Hält das Schreiben vielleicht sogar jung? Und welche Vorteile bringt das Alter in Bezug auf das Schreiben mit sich?
Zum Glück weiß ich nicht, wie lange ich leben werde und schreiben kann. Aber solange es mir und anderen Freude macht, mir guttut und mich niemand ausbremst, schreibe ich halt weiter. Auch für die grauen Zellen ist es bestimmt ein Vorteil, leider nicht für die Beine.
Ihre Heldinnen sind oftmals graue Mäuse, haben Schrullen oder sind Außenseiterinnen oder vom Leben Benachteiligte. Sind stille Wasser tief? Morden Frauen raffinierter und wie würden Sie es, rein hypothetisch gefragt natürlich, anstellen? Steckt in uns allen ein potenzieller Verbrecher oder eine potenzielle Verbrecherin?
Eine weitgehend zufriedene Frau wird wohl kaum zur Mörderin. Mich haben die sogenannten grauen Mäuse immer besonders interessiert, ich möchte hinter ihre Fassade schauen. Frauen morden wahrscheinlich selten durch körperliche Gewaltanwendung, weil sie naturgemäß unterlegen wären. Deshalb sind List und Gift ihre bevorzugten Waffen, und so würde ich es auch handhaben.
Unter bestimmten Umständen ist sicherlich jeder dazu fähig, einen anderen Menschen zu töten. Wir sollten dankbar sein, dass wir bisher nie in eine so schreckliche Situation gekommen sind.
»In der Schule sollte man etwas anspruchsvoller über Kants kategorischen Imperativ reden.«
Sie erheben in Ihren Büchern niemals den moralischen Zeigefinger. Empfinden Sie für Ihre Protagonistinnen durchaus auch Empathie? Glauben Sie, dass man Empathie lernen kann? Wäre das nicht ein außerordentlich wichtiges Schulfach, genauso wie seelische Gesundheit?
Da ich in der Ichform schreibe, muss ich mich in die Gedanken- und Gefühlswelt meiner Protagonistin einfühlen, man kann das mit einer Schauspielerin vergleichen, die in eine Rolle schlüpft.
Natürlich kann und muss man Empathie lernen! Ein kleines Kind reißt aus purer Neugier einem Maikäfer die Flügel aus und muss belehrt werden. Schon im Sandkasten hauen sich die Dreijährigen die Schaufel auf den Kopf und müssen begreifen, dass es weh tut. Meinen Kindern habe ich von klein auf den uralten Spruch eingetrichtert: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu! In der Schule sollte man etwas anspruchsvoller über Kants kategorischen Imperativ reden.
Als 1991 Ihr erster Roman »Der Hahn ist tot« veröffentlicht wurde – was war das für ein Gefühl und hätten Sie sich damals gedacht, dass es einmal 19 Romane werden (und da sind die Kurzgeschichten und anderen Veröffentlichungen gar nicht mitgezählt)?
Es war die größte Überraschung meines Lebens, dass mein erster Roman sofort vom Diogenes Verlag angenommen und dann auch noch ein Bestseller wurde. Als ich schließlich das frisch gedruckte Buch erhielt, konnte ich es kaum glauben und trug es ständig herum wie eine junge Mutter ihr neugeborenes Baby.
Wenn man sich in der Welt umsieht, gibt es ja leider wenig Anlass zur Freude. Hilft Ihnen das Schreiben vor diesem Hintergrund? Hilft der Humor und woher kommt Ihre Mordlust, Ihr rabenschwarzer Humor?
Natürlich ist Schreiben auch die Flucht in eine Phantasiewelt. Und ohne Humor wäre das Leben sowieso kaum auszuhalten. Woher kommt mein schwarzer Humor? Wahrscheinlich von meinem Papa, der ein amüsanter Erzähler war. Meine theoretische Mordlust ist vielleicht eine Kompensation, weil ich im Privatleben als besonders friedlich gelte.
Das Alter bringt zwangsläufig viele Verluste mit sich. Hilft auch da das Schreiben? Macht Ihnen der Gedanke, dass es einmal zu Ende geht, Angst?
Natürlich ist es traurig, wenn die schwarzumränderten Umschläge im Briefkasten zunehmen, wenn geliebte und sogar weitaus jüngere Menschen sterben. Klar, dass meine Lebensdauer mit 90 Jahren immer begrenzter wird, aber das ist für mich in Ordnung. Ich hatte ein erfülltes Leben und hoffe nur, dass ich irgendwann schmerzfrei und zufrieden einschlafe.
Sie (und Ihr Werk) wurden vielfach ausgezeichnet. U.a. sind Sie Ehrenkriminalhauptkommissarin der Polizei Mannheim. Seit ein paar Jahren gibt es auch einen Ingrid-Noll-Weg in Ihrem Wohnort Weinheim. Welche Ihrer vielen Auszeichnungen macht Ihnen am meisten Freude?
Kürzlich erhielt ich das Bundesverdienstkreuz. Es hat mich insofern amüsiert, weil es ja im Allgemeinen für soziales, politisches, wirtschaftliches oder ehrenamtliches Engagement verliehen wird, bei mir aber für Mord und Totschlag.
Welche Wünsche bleiben? Was ist Glück für Sie und was erhoffen Sie sich noch?
Jeder vernünftige Mensch wünscht sich vor allem, dass die vielen grausamen Kriege aufhören und auch unsere Nachkommen in Frieden leben können. Das wäre ein großes Glück! Und persönlich wünsche ich mir noch ein paar heitere Jahre nach dem Motto eines altmodischen Liedes: Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht…
Ingrid Noll wurde 1935 in Shanghai als Tochter eines deutschen Arztes geboren und studierte in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte. Nach dem Auszug ihrer drei Kinder begann sie mit dem Verfassen ihrer kriminellen Pretiosen: 1991 erschien das Debüt »Der Hahn ist tot«. Es folgten u.a. die mit Katja Riemann verfilmte »Apothekerin«, »Kalt ist der Abendhauch«, »Kuckuckskind«, »Halali«, »Goldschatz« und »Tea Time«. 2005 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Ehrenpreis. Im Februar 2025 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.
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Ingrid Noll
Nachteule
Diogenes, 304 S.
