Sie ist die Grande Dame der österreichischen Literatur: Barbara Frischmuth. Eine Wiederlektüre der »Sternwieser Trilogie« anlässlich der Verleihung des diesjährigen »Ehrenpreises des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln«. Foto: Monika Loeff.

Aus Buchkultur 105B, Herbst 2005.


Meine erste literarische Begegnung mit Barbara Frischmuth vor rund 17 Jahren fand in ihrem Roman »Amy oder die Metamorphose« statt. Es geht darin um eine junge Frau, die in einem Bett aufwacht und nichts von ihrem früheren Leben weiß, ja nicht einmal, dass sie ein Mensch mit einem Körper ist. Langsam findet sie sich in ihm zurecht, allmählich erkennt sie so manches Gesicht wieder, erinnert sich an bestimmte Begebenheiten, aber an keine größeren Zusammenhänge.

Man denkt an Amnesie, natürlich nur, wenn man den ersten Teil der »Sternwieser Trilogie« (»Die Mystifikationen der Sophie Silber«) nicht gelesen hat – so wie ich damals. Es handelt sich nämlich um die ehemalige Narzissenfee Amaryllis Sternwieser – nun Amy Stern –, die sich die löbliche Aufgabe gestellt hat, durch ihre Menschwerdung die Welt der »lang Existierenden« (Feen, Nixen, Elfen usw.) und die der »Enterischen« (Menschen) näher zu bringen, ein besseres Verständnis füreinander zu schaffen.

Amy Stern durchlebt ein typisch weibliches Schicksal, könnte man nun sagen, sie studiert, jobbt als Kellnerin, wird schwanger. Der Kindsvater hat zwar vor, ihr zu helfen, aber »auf die Welt bringen musst du es, und seine Pflege wird auch deine Sache sein« (aus »Amy oder die Metamorphose«). Das Studium gibt sie auf, sie wird Schriftstellerin, behält das Kind und führt im dritten Teil der »Sternwieser Trilogie« (»Kai und die Liebe zu den Modellen«) ein Lebensmodell vor, das für viele Frauen heute normal ist, Ende der 1970er noch eher die Ausnahme war: berufstätig mit Kind.

Was mich damals faszinierte, war Amys Dasein, unbeschwert und unbehelligt von Eltern und Herkunft, wie mir schien, und die Unabhängigkeit in ihren Handlungen, das Urbane, auch ein gewisses Wienkolorit, das bei nochmaliger späterer Lektüre viel schwächer ausgeprägt war, als ich es in Erinnerung hatte. Auch Amy Sterns wildes Studentenleben stellte sich als weitaus harmloser heraus, als ich es mir ausgemalt hatte, und die zahlreichen Liebschaften, die ich ihr andichtete, hatte sie ebenfalls nicht, sondern nur eine, wenn auch einige Verehrer. Damals wollte ich auch in Wien studieren, jobben, mich nächtens in geheimnisvollen Parks herumtreiben und auf den Bänken schlafen, keine Angst vor Gewaltüberfällen haben, mich zur Schriftstellerin entwickeln. Nur schwanger werden wollte ich nicht.

Was Amy Sterns Metamorphose aber wirklich bedeutet, abseits von meiner scheuklappenartigen Lektüre vor 17 Jahren, liegt auf der Hand: Erst das vollständige Eintauchen in eine fremde Kultur, verbunden mit einem konsequenten Hinter-sich-Lassen des bequemen Status quo, schafft die Voraussetzung für ein vorurteilsfreies Verständnis, das auch Kritik nicht ausschließt, im Gegenteil, sie erwirbt sich erst durch diese Grenzüberschreitung ihre Kompetenz.

Wie viel Barbara Frischmuth nun in Amy Stern steckt oder umgekehrt, das weiß nur die Autorin selbst zu beantworten, und das ist auch gar nicht so wichtig. Was jedenfalls deutlich zu erkennen ist: ihre unermüdliche Anstrengung, den aufkeimenden Hass und höchst aggressiven Anpassungsdruck aufzulösen, also zwischen zwei scheinbar unvereinbaren Welten Brücken zu schlagen: Sei es nun zwischen den Irdischen und Überirdischen, den Frauen und Männern, den Erwachsenen und Kindern, den Ausseern und Wienern, aber vor allem: zwischen der Welt des Orients und des Okzidents. Dafür hat sie den diesjährigen Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln bekommen.


Barbara Frischmuth, geb. am 5. Juli 1941 in Altaussee/Steiermark, veröffentlicht Romane, Hörspiele, Übersetzungen aus dem Englischen, Ungarischen, Märchen, Kinder- und Jugendliteratur; einige Fernsehfilme wurden nach Erzählungen von ihr gedreht; studierte Englisch, Türkisch, Ungarisch und Orientalistik. Seit 1966 freie Autorin, Gründungsmitglied der Grazer Autorenversammlung, aus der sie 1989 wegen künstlerischer Differenzen austritt. Reisen in die Türkei (Erzurum) und nach Ungarn (Debrecen); ihr bekanntestes Werk ist die »Sternwieser Trilogie« mit den Romanen »Die Mystifikationen der Sophie Silber«, 1976, »Amy oder die Metamorphose«, 1978, »Kai und die Liebe zu den Modellen«, 1979; zurzeit lebt sie in Bad Aussee.

Barbara Frischmuth
Der Sommer, in dem Anna verschwunden war
Aufbau 2004, 367 S.