Schockszenen und Verstandesreaktionen kommen im Krimi »Ein kleines Lied über das Sterben« in prekäre Balance. Foto: Elliot Blunck
Von einem Moment auf den anderen erstarren Männermienen vor Schrecken. Sie hatten sich kurz zuvor noch über kulinarisches Engelfrikasse und grandiosen Sex gefreut. Jäh wird ihnen bewusst, dass ihnen Menschenfleisch serviert wurde, exquisit zubereitet von Josepha, die sich unvermutet von einer femme fatale zum Todesengel gewandelt hat. Ihren gefesselten Opfern, die sie zuvor in ihrem Luxusappartment verführt hat, hält sie nach gemeinsamem Mahl nun die Kettensäge an die Kehle und zerstückelt sie. Ein Alptraum? Nein. Fiktive Realitätsnähe. Während dieser blutigen Prozedur ertönt jedesmal der Cantus cannibal, nämlich ein Song der Band »Hall & Oates«. Ihr Köder: ein schwarzer Labrador, der bei Spaziergängen in einem verödeten Hamburger Distrikt andere Hundebesitzer zum nachmals tödlichen Plausch anlockt.
Mit Finten aus makabrem Humor und Kiez-Jargon sowie gelegentlich narrativen Loops stöbert Autor Timo Blunck in einem dunklen Kapitel hanseatischer Lokalhistorie: misslungene Integration. Josepha und ihr Bruder Noah sind nicht registrierte Kinder einer Russlanddeutschen, die als Prostituierte arbeitete. In einer abgelegenen Baracke tagelang alleingelassen und vernachlässigt, verspeist Josepha schließlich ihren bereits gestorbenen Bruder, inkorporiert seine Identität und nimmt in dieser psychischen Doppelrolle Rache als Serienmörderin. Ein abgehalfterter Kommissar und eine tapfere Kollegin seiner ehemaligen Dienststelle klären die verworrenen Zusammenhänge auf, wobei Polizeiarbeit und Persönlichkeitsprofile mikroskopisch Tragödie und Tabu kontextualisieren.
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Timo Blunck
Ein kleines Lied über das Sterben
emons, 319 S.