Ein außergewöhnliches Debüt von großer sprachlicher Schönheit: Stefanie vor Schultes Roman „Junge mit schwarzem Hahn“ erzählt aus den tiefsten Schwärzen der Romantik und ist dennoch ein hochaktuelles Stück Literatur für unsere Zeit. Ein modernes (Schauer-)Märchen in historischem Gewand, Parabel auf unsere Gegenwart und klassischer Entwicklungsroman zugleich. Eine tyrannische Fürstin unterdrückt das Volk. Jedes Jahr verschwinden Kinder. Und das Land liegt in Krieg und Verwüstung. Der elfjährige Martin zieht aus, die Unschuldigen zu retten. Was bedeutet es heute, menschlich zu bleiben? Wie kann Martin inmitten des Grauens bestehen? – Auch darüber haben wir mit der Autorin gesprochen. Foto: Gene Glover/Diogenes.
Buchkultur: Was war der Grund dafür, Martins Geschichte in eine historisch weit zurückliegende Zeit zu versetzen, sie in historischem, romantisch-märchenhaftem Gewand zu schreiben? Auf Motive der Romantik, der Volksmärchen zurückzugreifen? Erreicht man so mehr Menschen? War es wichtig, um diesen ganz eigenen, außergewöhnlichen Ton des Romans zu finden? Und was hat diese Epoche mit unserer heutigen gemein? Leben wir auch heute wieder in finsteren, unmenschlichen Zeiten? Und täusche ich mich oder könnte Martins Geschichte (vordergründig) in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges angesiedelt sein?
Stephanie vor Schulte: Zuerst gab es nur das Bild des Jungen mit seinem Begleiter, und es stellte sich mir die Frage, in welcher Welt die beiden nun beweisen müssten, dass es gilt, sich unablässig dem Schlechten entgegenzustellen. Je lichter mir das Kind erschien, umso dunkler musste seine Umgebung sein. Die Verführbarkeit durch Aberglauben und Unhinterfragtes stellte da rasch den passenden Hintergrund. Aber es ging auch darum, eine Stimmung zu erzeugen, die den Lesenden derart an sich bindet, dass die üblichen Versuchungen hoffentlich nicht greifen würden. Es ging aber nie darum, einen tatsächlich historischen Hintergrund zu wählen. Es war eher der Wunsch, an einen vielleicht in der Kindheit durch Märchen vorbereiteten grundsätzlichen Schauer zu erinnern. So, als würde der Leser eingeladen, einer Geschichte zu folgen, die ihm schrecklich vertraut ist. Die fortführt, was ihn einst beschäftigte.
Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Sie zu diesem Roman inspiriert hat? Oder ist es die Unmenschlichkeit unserer Zeit? Haben Sie das Buch schon lange mit sich „herumgetragen“?
Zuerst gab es ja das Bild dieses Jungen mit seinem struppigen Gefährten. Ab da ging alles ganz schnell. Kaum war er da, fand sich der Rest. Natürlich auch dank der Arbeit mit meiner wunderbaren Agentin Caterina Schäfer.
Die Verschleifung aller Werte ist eines meiner Hauptanliegen.
„Junge mit schwarzem Hahn“ zitiert eine Fülle von Motiven aus der (Schwarzen) Romantik (E.T.A. Hoffmann, Goethe, die Kraniche, der Hahn, …). Wofür steht der schwarze (sprechende) Hahn?
Der schwarze Hahn ist Martins Anker, Freund, Herz und Gewissen. Er führt den Jungen konsequent in die Dunkelheit zu seiner Bestimmung. Ein schwieriger Freund, den nicht jeder ertragen würde. Natürlich finden sich Motive der Romantik, aber der Hahn ist für mich eher eine Art Anti-Bambi. In amerikanischen Zeichentrickfilmen steht den Hauptfiguren oft ein Geselle parat. Ein putziges Tierchen. Eine Grille oder Teekanne, Mäuse etc. In all diesen Filmen gibt es immer eine schwer aushaltbare Erschütterung. Den Tod einer zuvor eingeführten Figur. Einen Abschied für immer. Als Kind hat mich das wütend gemacht. Nun gibt es in meinem Roman ebenfalls Erschütterung und Tod, doch schien es mir unerlässlich, die Gefährten unbeschadet durch die Ereignisse zu lenken.
Wofür steht die Fürstin? Sie möchte nicht altern und duldet keine schön(er)e Frau neben sich. Sie wirkt erstarrt in ihrer Fratzenhaftigkeit. Leben wir in einer erstarrten Zeit, in der die alten Modelle ausgedient haben, in der wir uns von alten (gesellschaftlichen) Vorstellungen lösen und neue Wege gehen müssen, um drohende Katastrophen zu verhindern, in der wir lernen müssen, flexibler zu sein?
Die Fürstin weigert sich, das einmal von sich selbst entworfene Bild zu hinterfragen. Sie ist erstarrt in der Annahme ihrer selbst. Sie hat aus der Summe ihrer Jahre nichts gelernt. Und ja, oft verhalten sich die Menschen so. Sie entscheiden sich für Wege, die sie nicht hinterfragen, weil die Mehrheit diese Wege geht. Sie kennen sich früher denn je mit sich selber aus, sind mit sich zufrieden, verteidigen ihre Vorstellung von sich selbst. Es scheint beinahe ein Makel zu sein, seine Haltung, seine Werte immer wieder zu reaktivieren, denn manchmal müssen sie einfach angepasst werden.
Kann Kunst, Literatur die Welt zum Besseren verändern? Und wofür steht die Figur des Malers im Buch? Er ist klug, Martin wohlgesonnen (auch wenn er zwischendurch durch Elend und Hunger in Versuchung gerät), ein Spötter, und in gewisser Weise ebenso ein Außenseiter wie Martin, und er hilft Martin bei der Suche nach den schwarzen Reitern. Am Ende schwört er sich, das Kind nie mehr allein zu lassen. Trotzdem wäre er von sich aus wohl nicht auf die Idee gekommen, es Martin gleichzutun.
Muss Kunst überhaupt den Anspruch haben, die Welt zu verbessern? Ist nicht Bildung ein Selbstzweck? Darf dann Kunst nicht auch ein Selbstzweck sein? Wie soll Kunst in einer Welt etwas verbessern können, in der sie zuallererst – während der Pandemie – beiseitegeschafft wurde? Wo z. B. Museen nicht öffnen konnten, in denen Besucherzahlen wirklich einfach unter Kontrolle zu bringen gewesen wären.
Der Maler ist der ideale Erwachsene. Nicht perfekt. Vor allem aber erfüllt und durchdrungen von etwas. Auf der Suche. In der Lage, Schönheit und letztendlich das Gute zu sehen, es bewahren zu wollen, in seinen Absichten zu straucheln, sich aber wieder zu fangen. Der Maler macht Fehler, und er trifft Entscheidungen. Er ist in der Lage, zu sehen und letztendlich auch zu zeigen. Um auf den ersten Teil Ihrer Frage also zurückzukommen: Wer etwas sehen und erkennen kann, hat wohl auch die Pflicht, davon zu berichten. Das trifft dann auch auf den Künstler zu.
Die Ereignisse, Entwicklungen weltweit geben großen Anlass zur Sorge: Kriege, Terroranschläge, Hungersnöte, Diktaturen, Rechtsruck, die klimatischen Veränderungen, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimatländer zu verlassen, die globale Gewalt gegen Frauen und Kinder.
Was bedeutet es heute, in einer so unmenschlichen Zeit, so ein sensibler Mensch wie Martin zu sein? Wie können, müssen wir heute gegen diese Unmenschlichkeit vorgehen?
Wie Martin am Ende ins Dorf einreitet – das erinnert unwillkürlich ein wenig an den heiligen Martin. Haben Sie den Namen bewusst in Anlehnung daran gewählt? Wie schafft Martin es, inmitten des Grauens nicht wahnsinnig zu werden, sondern gut zu bleiben? Ist Martins Wille zum Guten, der fast ein wenig an Kant erinnert, ist Gesinnung heute wieder notwendiger denn je?
Martin mit Hahn und der heilige Martin lösen ja vor allem erst einmal immer nur ein Problem von vielen und nicht gleich alle. Beide Martins haben keine Universallösung, sondern setzen sich irgendwie machbare Ziele, die sie mal ängstlich, mal klar angehen. Der Junge wiederum darf ja auch eine gewisse Form der Freiheit leben. Zwar kümmert sich niemand und seine Sorgen sind existentiell, aber er muss sich auch keinem Vormund beugen. Muss keinem System dienen, aus dem er womöglich herausfiele. Seine Ideale weisen weit über sein Alter hinaus. Er ist nicht besser, weil er ein Kind ist, sondern obwohl. Es ist seinem Verstand zu verdanken, dass er nicht verrückt wird.
Ich habe oft den Eindruck, dass zwischen legal und legitim nicht mehr unterschieden wird. Dass die Menschen alles ausreizen. Es ist erlaubt, bis zehn Uhr den Staubsauger zu bedienen, aber muss ich das dann auch tun? Natürlich müssen immer die Gesamtsituationen betrachtet werden. Das macht es wiederum kompliziert. Aber es wäre schön, wenn die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, nicht verloren ginge. Wobei sensible Menschen ganz sicher von den komplizierten Kommunikationssystemen ausgebremst werden.
Was symbolisiert das Spiegelkabinett, die letzte der Stationen vor dem Ende des Schlafspiels?
Das Spiegelkabinett ist Martins letzte Versuchung. Hier treten noch einmal jene Wunden zutage, die ihm unterwegs geschlagen wurden. Sie werden ihm in seinem schwächsten Moment gespiegelt. Aber er widersteht. Er durchbricht die kalte Anrufung und bleibt unantastbar.
„In deinem Leben gibt es Unerklärliches, damit du zum Erklärlichen gelangst“, sagt der Hahn im Buch. Darf man darunter eine Anspielung auf das Zeitalter der Aufklärung verstehen, die auf das Mittelalter folgte?
Tatsächlich ist dieser Satz des Hahns eher auf Martins Bestimmung ausgerichtet. Seine Bestimmung ist es, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Dies kann ihm nur mithilfe seines wachen Verstandes gelingen.
Wir leben (das zeigt auch Corona) wieder in einer ängstlichen Gesellschaft, in einer Zeit des Aberglaubens und der Verschwörungstheorien – und das, obwohl wir uns für ach so aufgeklärt halten und über weit mehr Wissen verfügen als in der Zeit, die Sie beschreiben. Weshalb ist das so? Was dagegen tun?
Mehr Wissen führt ja nicht bei jedem automatisch zu einem größeren Sicherheitsgefühl. Nehmen Sie nur das Krankheitsbild des Hypochonders. Für einen daran Leidenden gibt es doch gewiss wenig Schlimmeres als die Fülle an potenziellen Symptomen, die das Internet bietet. Die Menschen wollen viel, haben viel, horten viel. Ihre Angriffsfläche ist groß. Und ein Werteverlust, wie er heutzutage überall zu spüren ist, führt in Verbindung mit Ängsten sehr gern zu Aberglauben und Verschwörungstheorien. Auch hier täte Verstand, aber auch Empathie Not. Dann wären solche, die bislang niemals ihre Freiheit in Gefahr sehen mussten, vielleicht nicht ausgerechnet jene, die sich partout nicht einschränken wollen. Wo doch in anderen Ländern, in anderen Schichten Freiheitseinbußen entsetzlich normal sind.
„Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, dann könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen“, heißt es in der Bibel. Im Buch ist es ein Kind, das die Kraft und den Mut hat, die Welt aus den Angeln zu heben und sich gegen die Obrigkeit auflehnt. Weshalb erheben sich die Burgbewohner, die die Fürstin hassen, nicht gegen diese? Das wirft auch die Frage auf: Kann man Zivilcourage, Empathie, Gesinnung (den Willen zum Guten) lernen? Wie?
Die Burgbewohner schämen sich. Sie haben über Jahre das Treiben der Fürstin gedeckt, zumindest nicht hinterfragt, obwohl sie alle unter ihr gelitten haben. Dann ausgerechnet erleben zu müssen, wie ein Junge die Tyrannin außer Gefecht setzt, erinnert sie an all die Male, da sie es nicht taten. Der Wille zum Guten muss gepflegt und immer wieder reaktiviert werden. Auch im Kind kann der Wille zum Guten versiegen. Auch ein Kind kann korrumpiert werden. Es ist nicht automatisch gut. Als Elternteil versucht man Kindern doch Tag um Tag – vereinfacht – den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erklären. Und trotzdem fühlen sich Erwachsene in der dazwischen liegenden Grauzone erstaunlich wohl. Warum? Weil sie die Ausbildung ethischen Bewusstseins für ein in der Kindheit abgeschlossenes Geschäft halten. Ist es aber nicht.
Ihr Roman ist auch ein schönes Sinnbild für den Generationenkonflikt: Die Erwachsenen, die versagen, die den Kindern ihre Zukunft rauben. Das alles erinnert mich auch ein bisschen an unsere Zeit und welche (teils schreckliche) Welt wir unseren Kindern hinterlassen.
Aus Greta Thunbergs zunächst einsamem Protest für eine ambitioniertere und sozial gerechtere Klimapolitik entwickelte sich die Klimabewegung „Fridays for Future“ mit hunderttausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf der ganzen Welt – ein Beispiel dafür, was Kinder, die junge Generation, auch heute bewegen können. Ihr Wort dazu? Macht das Hoffnung?
Es ist diese einmalige Fassungslosigkeit, die Kindern eigen ist, welche faszinieren kann, aber mitunter auch belächelt wird. Sie wollen etwas verändern, prangern etwas an und scheren sich nicht um die „Abers“, „Obwohls“ und „Weils“ der Erwachsenen. Sie glauben, ihr Anliegen durchsetzen zu können, und sie sollten es unbedingt glauben. Kinder dürfen ohne die „Abers“, „Obwohls“ und „Weils“ agieren. Jedoch ist es unbestreitbar, dass die Erwachsenen gut daran tun, sich ausbremsen zu können. Nur so geht Zivilisation, geht Demokratie. Allerdings scheint nichts mehr zueinander zu passen. Gleichwohl Kinder und Jugendliche z.B. während der Pandemie alles gegeben haben, gibt es nach wie vor keine Luftfilter in Schulen. Gibt es Aussicht auf weiteren Lockdown für den Herbst. Wurden über Monate Kinder und Jugendliche als Pandemietreiber dämonisiert. Es gibt keine Lobby für Kinder. Und also scheint es wenig Mut zu geben, ihrer gerechtfertigten Fassungslosigkeit Raum und Chance zu geben. Es ist doch fast schon lächerlich, wieviel Stärke und Hingabe ein einzelnes Kind wie Greta Thunberg beweisen muss, um sich Gehör zu verschaffen. Aber warum muss sie überhaupt kämpfen? Warum machen sich Erwachsene über sie lustig? Warum drängen Erwachsene jetzt auf Flugreisen und gefährden alle nicht geimpften Kinder? Wer die Rechte von Kindern negiert, negiert die Zukunft.
„Junge mit schwarzem Hahn“ beeindruckt auch durch seine Fülle an starken Bildern, durch seine bilderreiche Sprache. Sie sind studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Hilft Ihnen das beim Schreiben? Inwiefern?
Ich denke meine Romane zuerst in Bildern. Natürlich lernt man auf dem Theater, Gefühle und Themen in Bildern zu denken, um ihnen den passenden Rahmen, also den Raum oder das Gewand, zu erfinden. Als Autorin wächst in mir immer erst das Bild, und wenn ich es deutlich sehe und mich darin bewegen kann, sind alle Sätze plötzlich da.
Sie sind selbst vierfache Mutter. Inwiefern haben Ihre Kinder Sie zu diesem Buch inspiriert?
Zwar habe ich Kinder, aber sie haben mich nicht bei der Geschichte oder der Zeichnung der Figuren inspiriert. Ein Krimiautor muss ja auch nicht kriminell sein, um sein Thema zu finden.
Aber natürlich gibt es etwas dem Roman Innewohnendes, eine Art Unmittelbarkeit oder Hast, und ich würde meinen, die gründet auf meinem Leben mit vier Kindern. Es ist eine Kombination aus Verletzlichkeit, Gefühlsreichtum, Zeitmangel, Sorge, Überanstrengung, Glück und immer dem Wissen, nur einen Schuss am Tag zu haben, und da muss dann jeder Satz sitzen. Also der ganz gewöhnliche Zustand aller Schreibenden mit Kindern, womöglich kranken Kindern. Aber natürlich auch ein Privileg.
War es schon immer Ihr Wunsch, zu schreiben?
Ich habe schon immer Geschichten geliebt und Papier. Nichts hat mich glücklicher gemacht als ein Stapel Papier, ein Buch mit leeren Seiten (und früher waren die gar nicht so einfach zu finden). Angst vor einem weißen Blatt habe ich nie verspürt. Mit ungefähr zwölf Jahren habe ich dann gewusst, dass ich eigentlich Schriftstellerin werden will. Vielleicht kam mir das Zeichnen in die Quere. Es wurde zumindest sehr viel mehr anerkannt als meine Schreibversuche. Ich hatte auch ganz oft das Gefühl, weder das Thema eines Romans zu beherrschen, noch eine Stimme zu haben. Nach der Schule habe ich viele Jahre in intensiven kreativen Prozessen gelebt. Theater. Illustration. Drehbuch. Kinderromane, Krimi. Aber es hat nie gereicht. Ich habe zahllose Rückschläge, Absagen und gescheiterte Projekte in den Knochen. Und dann kam mir die Idee zum Jungen, und vielleicht habe ich gedacht: jetzt oder nie. Und so entstand das Buch zwar schnell, aber insgesamt war es ein langer, langer Weg.
Können Sie uns vielleicht schon etwas über Ihren nächsten Roman verraten?
Er wird komplett anders und also hoffentlich genauso wie der erste!
Stefanie vor Schulte wurde 1974 in Hannover geboren und lebt heute mit ihrem Mann und vier Kindern in Marburg. Sie ist studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. »Junge mit schwarzem Hahn« ist ihr Debütroman – und was für einer!
Stefanie vor Schulte
Junge mit schwarzem Hahn
Diogenes, 224 S.