Rechtzeitig zu Paul Austers 70. Geburtstag erscheint sein Opus magnum: ein opulenter Roman über ein Leben – nein, über vier Leben, die sich aber auch anders hätten ereignen können. Foto: Lotte Hansen.
Erschienen in Buchkultur 170, Februar/März 2017.
»Ich hatte eine Menge Ideen für Bücher, aber seit ein paar Jahren sind die Laden leer.« Das Alter und seine verstrickten Wendungen haben auch vor Paul Auster nicht haltgemacht. Am 3. Februar 2017 wird er seinen 70. Geburtstag feiern, und unter diesen Umständen sehnt er sich diesen Tag nicht herbei. Dafür hat sich der Autor Gelassenheit verordnet: »Es ist keine Tragödie, wenn ich kein weiteres Buch mehr veröffentliche. Was solls, ob ich nun 16 oder 17 Bücher publiziere? Wenn die Ursache für das Schreiben nicht in der Notwendigkeit liegt, ist es nichts wert«, erklärte der Autor 2010 in einem Interview. Das mag man Abgeklärtheit nennen oder einfach nur das Abfinden mit den Realitäten des Lebens. Vielleicht ist es gerade deshalb kein Zufall, dass sein jüngster Roman »4 3 2 1« heißt. Doch auf das Alter spielt der Titel nicht an, sondern auf eines von Austers bevorzugten Themen, nämlich die Gespaltenheit der Identität.
Verheißungsvoll sind die Ankündigungen: »4 3 2 1« sei Austers bislang bedeutendster Roman, der am meisten ans Herz gehe. Es ist sicher nur Zufall, dass der Protagonist Archibald Isaac Ferguson im selben Jahr und am selben Ort wie sein Autor geboren wird. Der New Yorker Spross einer russischen Einwandererfamilie geht von nun an nicht nur einen, sondern vier Wege. Auf mehr als 1200 Seiten zeichnet Auster nämlich Varianten eines Lebens nach, als wolle er die beste Lösung für einen Lebenslauf finden. Was hier vor einem liegt, sind aber nicht nur die Spiegelungen von Lebensgeschichten, sondern der Geschichte als solcher: Die Ferguson-Burschen durchwandern die Geschichte der USA in den 1950er und 1960er Jahren, erleben die Präsidentschaften der Kennedys oder die Reden Martin Luther Kings. Austers neuer Roman ist aber auch ein Buch über ein Buch. Es erzählt nämlich von einem gewissen Ferguson, der in Paris einen Roman über die vier Fergusons schreibt, den er am 25. August 1975 beendet. Jene Passagen, in denen er »vom Tod seiner geliebten Jungen« berichtet, seien ihm am schwersten gefallen. In den 1970ern endet die verwinkelte Lebensbeschreibung, in deren letztem Absatz die Namen Nixon, Goldwater, Gerald Ford und Nelson Rockefeller auftauchen – und Rockefellers Frau, die »Happy« hieß.
Wenngleich man Auster heute vor allem als Roman-Autor kennt, begann er seinen nicht immer einfachen literarischen und persönlichen Weg als Lyriker, hervorgerufen durch seine intensive Beschäftigung mit französischen Autoren. Nach seinem Prosa-Debüt »Die Erfindung der Einsamkeit«, das ihm nur wenig Aufmerksamkeit brachte, kam mit der »New-York-Trilogie« (1987) der internationale Durchbruch. Die Trilogie setzt sich aus Kriminalromanen zusammen (»Stadt aus Glas«, »Schlagschatten«, »Hinter verschlossenen Türen«), die sich allesamt um die Vielgestaltigkeit der Existenz drehen: Entweder besitzt jemand mehrere davon, wie in »Stadt aus Glas«, oder die Hauptfigur beginnt plötzlich eine andere Existenz anzunehmen, wie in »Hinter verschlossenen Türen«, oder die Figuren interessieren sich in besonderer Weise füreinander, wie in »Schlagschatten«.
Auster war und ist aber nicht nur Autor, sondern auch Filmemacher. Schon in den 1960er Jahren verfasste er Drehbücher für Stummfilme. Stummfilme spielen übrigens auch im »Buch der Illusionen“ eine Rolle: Die Hauptfigur David Zimmer ist hingerissen von den Werken des fiktiven Stummfilm-Darstellers Hector Mann und möchte ein Buch über Mann schreiben. Und schließlich lieferte Auster die Drehbücher für die Filme »Smoke« (1994) und »Blue in the Face« (1995) von Wayne Wang.
Welchem Medium sich Auster auch immer zuwendet – möglicherweise wird er die Laden seines Schreibtisches in Brooklyn bald wieder öffnen, denn gerade jemandem wie Auster nimmt man es nicht ab, dass er keine Geschichte mehr zu erzählen hätte.
Paul Auster wurde am 3. Februar 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Seine jüdischen Eltern sind polnischer Herkunft. Er studierte an der Columbia University in New York und ging 1970 nach Paris, wo er französische Literatur ins Englische übersetzte. 1974 kehrte er in die USA zurück. Seit 1981 ist Auster mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratet.
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Paul Auster
4 3 2 1
Ü: Th. Gunkel, W. Schmitz, K. Singelmann, N. Stingel
Rowohlt, 1260 S.