Ein wundersam-ungewöhnliches Buch ist Jackie Polzins bewegender Debütroman „Brüten“, der an die elementaren Dinge des Lebens rührt.
Eine Frau, ihr Mann und vier Hühner im vorstädtischen Minnesota – daraus macht die Amerikanerin Jackie Polzin große Literatur. „Brüten“ fußt auf persönlichen Erfahrungen und erzählt von der Stärke und Verletzlichkeit unseres Daseins. Die Ich-Erzählerin versucht, ihre Hühner gegen jegliche Unbill zu verteidigen: Wind und Wetter, Waschbär und Hühnerhabicht, Vogelgrippe und andere Krankheiten bedrohen das fragile Gleichgewicht im Hühnerstall. Erst allmählich und in Nebensätzen erfährt man, was sich hinter der Sorge um die ihr anvertrauten und von ihr abhängigen Tiere noch verbirgt: Die stille Trauer um den Verlust ihres ungeborenen Kindes und die daraus resultierende Einsamkeit sind ständige Begleiter und verändern den Blick auf die Welt. „Brüten“ bricht auch mit dem Schweigen über ein Thema, das nach wie vor tabuisiert wird. Dreißig bis vierzig Prozent aller Schwangerschaften enden in den ersten drei Monaten, gesprochen wird darüber kaum. Wie geht man mit der Scham und Wut um, die ein solch traumatisches Ereignis und das Schweigen darüber mit sich bringen? Wie trauert man um ein Kind, das nie geboren wurde? Was empfinden Hühner, wenn man ihnen ihre Eier wegnimmt? Was, wenn man vergebens über etwas brütet oder auf etwas hofft, das sich vielleicht nie erfüllen wird? Was bedeutet es, für jemanden oder etwas zu sorgen?
Das sind Fragen, die Jackie Polzin aus eigener Betroffenheit beschäftigten. Trauern ist ein zyklischer Prozess, Verlust ein natürlicher Bestandteil des Lebens. „Brüten“ erzählt vom Wachsen und Sterben, von Geburt und Tod, von der Würde eines jeden Lebewesens und vom Wert des Alltags.
Neunzehn Milliarden Hühner gibt es weltweit – die meisten davon in Fabriken – und sie sind bei weitem nicht so dumm, wie behauptet wird. In ihren Augen erahnt man noch den Sauriervorfahren (Hühner stammen vom Tyrannosaurus Rex ab). Weil sie keine Zähne haben, müssen Hühner Steinchen picken, damit sie ihr Futter in einem speziellen Magen zerkleinern können. Und sie sind keine Vegetarier: Hühner fressen zwischendurch Babymäuse oder Vogelküken. Sie gebrauchen wie wir hohe weiche Laute, um ihre Jungen zu trösten, doch weil sie selten mit ihren Küken zusammenbleiben dürfen, hört man davon immer weniger. Was wir von Hühnern (und Kindern) lernen können: In der Gegenwart zu leben, jeden Moment voll auszukosten. Und was ist die Hackordnung der Hühner gegen die der Menschen?
Das Leben eines Huhns ist voller Magie, schreibt Polzin. Das Leben mit Hühnern ebenso. Und magisch ist auch dieses Buch, das sich aus vielen kleinen Abschnitten zu einem großen Ganzen fügt. Es sind die scheinbar unbedeutenden Momente und Verrichtungen des Alltags, aus denen wir Sinn, Trost und Freude ziehen. Ein Hühnerstall als Metapher für das Leben, Putzen als Versuch, Ordnung herzustellen: „Brüten“ ist ein stilles, sehr sensibel und authentisch erzähltes Buch, das zurück führt in die Welt, in der man Nähe wieder zulassen kann.
Das Leben ist das fortwährende Bemühen zu leben, heißt es im Buch. Die schöne Nachricht am Rande: Im wirklichen Leben ist Jackie Polzin inzwischen Mutter geworden. Sätze von großer Klarheit und schlichter Größe, so kostbar und rar wie das Leben. Dieser Roman hat Charakter.
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Jackie Polzin
Brüten
Ü: Nikolaus Stingl
dtv, 208 S.