Von berückender Schönheit und Pracht ist Samantha Harveys Roman »Umlaufbahnen«, der soeben mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde. Foto: Rick Hewes


Sechs Astronaut/innen der Internationalen Raumstation ISS kreisen da in einer Höhe von 400 Kilometern um die Erde. Wie sich dabei ihr Blickwinkel auf den blauen Planeten verändert und mit welchen Gefühlen sie dort oben konfrontiert werden – das beschreibt die Britin Samantha Harvey auf ebenso stille wie poetische Weise. Ein außergewöhnliches Buch, dem es nur vordergründig an Dramatik mangelt – kreist es doch um die existenziellen Fragen unseres Seins. Das Interview mit der britischen Autorin, die den oft zitierten Vergleich mit der großen Virginia Woolf nicht zu scheuen braucht.

Buchkultur: Was hat Sie zu diesem wahrhaft un- und außergewöhnlichen Roman inspiriert?

Samantha Harvey: Mein Ausgangspunkt waren Bilder. Weltraum-Aufnahmen von der Erde, Bilder, die von der niedrigen Erdumlaufbahn aus aufgenommen worden waren (wie zum Beispiel von der ISS aus), und Aufnahmen der ganzen Erdkugel, die von weiter weg im Rahmen der Mondmissionen aufgenommen worden waren. Diese Bilder sind faszinierend und sie erfüllen mich mit etwas – mit allem auf einmal. Mein Herz wird ganz weit in meinem Körper, wenn ich die Erde von dieser Perspektive aus sehe.

Diese Aufnahmen, vor allem die Bilder, die von der niedrigen Erdumlaufbahn aus aufgenommen wurden (denn dort spielt mein Roman), waren jeden Tag mein Ausgangspunkt. Ich ließ den Livestream der ISS laufen (wenn die Übertragung funktionierte – oft tut sie es nicht), während ich schrieb. Ich umrundete die Erde jeden Tag mit der ISS. Ich versuchte, beim Schreiben die Bilder und Gefühle einzufangen, ohne zu viel zu planen. Ich wollte, dass das, was ich schrieb, sowohl die Qualität eines Gemäldes, als auch die eines Romans hat. Das heißt, ich wollte über das, was ich sah, so wenig wie möglich urteilen. Oder zumindest, dass jedes Urteil darüber dem Bild untergeordnet war – der Farbe eines Sees im Himalaya, der blassen, dämmrigen Krümmung der Atmosphäre, der in der Nacht beleuchteten Grenze zwischen Pakistan und Indien, dem grenzenlosen Übergang Europas nach Asien, dem Horizont des Planeten, der in ein Sternenfeld eintaucht. Wann hören wir auf, unsere Welt zu beurteilen, und wann beginnen wir, sie zu sehen?

Wie herausfordernd war es, ein so »stilles« Buch zu schreiben, in dem nur vordergründig nicht viel »passiert«?

Als Schriftstellerin interessiere ich mich für die Frage der Spannung: Was hält die Lesenden in der Traumlandschaft eines Romans »gefangen«? Was lässt sie den Atem anhalten? Wie hält man als Autorin die Leser/innen bei der Stange ohne sie fallenzulassen, ohne diesen Zauber zu brechen?

Wir wissen, dass der Plot – das »und dann und dann und dann« – eine schöne Art und Weise ist, das zu tun. Und wir wissen, dass das nicht der einzige Weg ist. Die Charaktere, die Perspektive, der Aufbau, die Sprache selbst können die Lesenden in ihren Bann ziehen. Plot und Dramatik erreicht man häufig durch Konflikte. Aber ich wollte einen Roman ohne Konflikt schreiben und die inhärente Dramatik meines Themas untersuchen. Es gibt so viel inhärentes Drama in Menschen, die mit achtundzwanzigtausend Kilometern die Stunde um die Erde herumrasen. Man braucht keine Explosion oder eine Invasion von Aliens, um dieses Thema außergewöhnlich zu machen.

Das letzte Mal, als ich mit dem Flugzeug flog und aus dem Fenster schaute, verspürte ich Ehrfurcht und Demut angesichts der Berge, Wälder, des Meeres, des Anblicks, der sich mir bot. Wenn man bedenkt, wie viele Milliarden von Jahren die Erde und das Universum bereits existieren und wie kurz im Vergleich dazu die Lebensspanne der Menschheit ist: Ist es nicht hoch an der Zeit, dass wir demütiger und ehrfürchtiger werden?

Ja, und ich glaube, dass wir im Laufe eines Lebens auch demütiger werden und ein größeres Verständnis für unseren Platz im Gesamtgeschehen entwickeln. Wenn wir mit unserer eigenen oder der Sterblichkeit von Menschen, die wir lieben, konfrontiert werden, bekommen wir ein Gefühl für unseren schwachen Halt im Leben und für unsere kurze Blütezeit. Wie alles in der kosmischen Ordnung eine Blume ist, die kurz blüht.

Andererseits gehören Hybris und ein unrealistisch großes Selbstbewusstsein zu unserem tierischen Erbe. Ein Kind hat kein Gefühl für seinen Platz im Kosmos. Es ist und muss das Zentrum seines Universums sein. Wenn es sich verliebt, muss es glauben, dass es die erste Person ist, der das passiert. Tierisches Überleben dreht sich so sehr um das eigene Selbst. Und auch wenn die Momente, in denen wir unsere eigene Winzigkeit erfassen, wunderschön und friedlich sein können, weiß ich nicht, wie realistisch es ist, dass wir das durchhalten. Aber ich glaube, es ist sehr wichtig, in solchen Momenten zu leben wie Sie im Flugzeug oder ich, wenn ich mir Weltraum-Aufnahmen der Erde ansehe.

Was bedeutet Zeit in diesem Kontext? Was bedeutet Zeit für die sechs Astronaut/innen und für Sie?

Ich kann nicht behaupten, auch nur annähernd zu verstehen, was Zeit ist – auf jeder Ebene. Ich denke, es ist nicht nur eine Sache. Einfachheitshalber stellen wir uns die Zeit linear vor, dass sie uns auf einer Geraden durchs Leben führt, vom Anfang bis zum Ende. Aber in Wirklichkeit ist unsere Erfahrung von Zeit dehnbar und verwirrend, und darüber zu schreiben, die Erde sechzehn Mal am Tag zu umreisen, ist eine Art, das auszudrücken.

Ich studierte vor langer Zeit Philosophie, und der Philosoph, der mich am meisten anzog, war Kant, weil er so technisch, akribisch und scheinbar langweilig war. Aber die Argumente, die er vorbrachte, waren radikal. Er sagte (grob vereinfachend), dass die Außenwelt – Raum und Zeit – objektiv vorhanden ist, wir sie aber nur durch unser Bewusstsein verstehen können, das ein Netz ist, siebend und sortierend. Alles, was wir erfahren, ist durch das Netz gerutscht, von der Welt zu uns. Aber es gibt eine Welt von Erscheinungen, die das Netz draußen hält. Zeit ist also so viel mehr, als wir jemals erfahren können. Wir sind als Menschen sehr an unseren eigenen zirkadianen Zeitrahmen (24-Stunden-Rhythmus) gebunden, egal, wie begrenzt das ist. Wir können die kosmischen Ordnungen der Zeit gar nicht begreifen, auch keine sehr winzigen Ordnungen der Zeit. Wir sehen die Sonne alle neunzig Minuten von einer niedrigen Umlaufbahn aus aufgehen und es geht über unseren Verstand. Aber diese Eigenartigkeit ist wahrscheinlich nichts verglichen mit der kosmischen Seltsamkeit der Zeit.

Wieder und wieder um die Erde zu kreisen – was symbolisiert dieses surreale und zugleich sehr reale Bild? Und wie ist es möglich, in einer solchen Umgebung menschlich zu bleiben?

Ich finde die erdfokussierte Umlaufbahn der ISS sehr interessant – sie symbolisiert eine Faszination für die Erde, unseren wunderschönen Planeten. Eine Faszination, unser Zuhause von außen zu sehen, zu sehen, wer wir sind, wo wir leben und was es ohne uns ist.

Ich glaube, dass es in dieser Umgebung sogar einfacher sein könnte, menschlich zu bleiben. Ich war nie dort, daher weiß ich es nicht. Aber ich habe viele Berichte von Astronaut/innen gelesen, die alles andere als dehumanisiert wirkten durch ihre Zeit im Weltraum. Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist das: Ich lebte für ein paar Jahre in Japan und ich habe mich nie britischer gefühlt, als während dieser Zeit. Meine Nationalität wurde plötzlich ein viel wichtigerer Teil meiner Identität und wie andere mich wahrnahmen. Vielleicht ist es auch für Astronaut/innen so – vielleicht fühlen sie sich aufgrund der Entfernung von zuhause umso menschlicher.

In Ihrem Roman geht es um die Widersprüche und Dissonanzen, die die sechs Astronaut/innen erleben (sie sind einsam und allein dort oben, aber in hohem Maße aufeinander angewiesen und voneinander abhängig). Ist es das, was uns menschlich macht? Ihr Wort dazu?

Ich glaube, dass die Widersprüche und Dissonanzen auf der Raumstation Mikrokosmen dessen sind, was wir ständig auf der Erde erleben (die selbst auch ein Raumschiff ist). Wir sind alle manchmal einsam oder erkennen zumindest, dass wir allein sind, und wir sind alle vollkommen von anderen abhängig und von allem, was das Ökosystem unseres Planeten ausmacht. Ich weiß nicht, ob das ausschließlich menschlich ist, aber es charakterisiert sicher einen Teil dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Es ist eine Tatsache, dass wir das Weltall schon seit Jahren bewohnen. Die USA wollen nun auf dem Mond und auf Asteroiden Rohstoffe abbauen, Elon Musk will den Mars erobern. Ist es nicht menschliche Hybris, dass wir uns nach der Zerstörung der Erde auch noch das Universum untertan machen wollen? Wäre es nicht weitaus besser, den Planeten Erde und das Leben auf ihm zu retten anstatt all unser Geld in den Orbit zu schießen?

Ja; eine gute Frage! Ein Astronaut oder eine Astronautin würde wahrscheinlich antworten, dass sich diese beiden Dinge nicht ausschließen und dass vieles von dem, was wir an Weltraumforschung betreiben, helfen soll, zu verstehen, wer wir Erdbewohner/innen sind, und uns das Sammeln von Daten und die Entwicklung von Technologien dabei unterstützen sollen, unsere Probleme auf der Erde zu lösen. Sie würden auch sagen, dass das Geld, das dafür ausgegeben wird, in Relation dazu unerheblich ist.

Ich persönlich halte das für eine optimistische Sichtweise. Aber wer bin ich, das zu sagen? Wir erforschen den Weltraum, weil wir eine Spezies sind, die motiviert ist, Innovationen durchzuführen, zu expandieren, zu kolonialisieren und zu entdecken. Wir können nicht anders. Ist das Hybris? Vielleicht, aber Neugierde ist auch etwas Schönes. Wir machen es, weil wir etwas sehen und herausfinden wollen. Wir finden im Nachhinein praktische Gründe und Rechtfertigungen dafür. Astronaut/innen fliegen nicht in den Weltraum, um Wissenschaft zu betreiben. Sie tun es, weil sie erfahren wollen, wie es ist, im Weltraum zu sein. Wissenschaft betreiben sie dort, weil das alles auf diese Weise finanziert wird. Und wie würden sie sonst ihre Zeit verbringen?

Wieder auf den Mond und dann zum Mars – warum nicht? Aber finanziert von amoralischen (oder unmoralischen, männlichen, weißen) Milliardären? Dorthin fliegen, um die Himmelskörper auszubeuten, Rohstoffe abzubauen …? – Das ist Landraub. Das ist die neue Siedlungsgrenze (Frontier): Wer zuerst hinkommt, dem gehört es. Das macht mir Sorgen, weil dieses Verhalten alle Fehler, die wir auf der Erde gemacht haben, wiederholt: Die Vermüllung des Weltraums mit Trümmern und Schrott. Viel zu viel Zugang und Privilegien für zu wenige. Viel zu wenig Regeln. Plündern und kolonialisieren. Wir könnten ein neues, egalitäres, nicht ausbeuterisches Modell verabschieden, jetzt, da wir uns weiter in den Weltraum wagen. Aber das geschieht nicht.

Ihr Roman ist auch eine Liebeserklärung an den Planeten Erde, den wir unser Zuhause nennen. Die Astronaut/innen beobachten von der Umlaufbahn aus, wie sich ein Taifun in rasender Geschwindigkeit auf die Philippinen zubewegt. Haben die Recherchen für dieses Buch Ihre Sicht auf die durch Klimawandel, Kriege und Katastrophen bedrohte Erde verändert? Hat es in Ihnen das Bedürfnis verstärkt, unseren Planeten noch mehr schützen zu wollen?

Hat es meine Wahrnehmung der Erde verändert? Hat es mich dazu gebracht, sie stärker beschützen zu wollen und mehr für sie Sorge tragen zu wollen? Ich bin nicht sicher. Ich habe das Buch teils wegen dieser Gefühle von Schutz und Fürsorge geschrieben, von denen ich nicht wusste, wohin damit. Der Roman ist meine Art, diese Gefühle auszudrücken. Wenn wir von »Liebe« zu unserem Planeten sprechen können, dann erscheint mir diese Liebe wie die zu einem Kind. Sehr groß, sehr stark, sehr simpel.

Durch meine Recherchen habe ich außerdem die Erde geografisch besser kennengelernt: Wie die Kontinente ineinander übergehen, die unterschiedlichen Blautöne jedes Ozeans. Das hat die Erde kleiner, wohnlicher und schöner gemacht.

Welche Rolle spielt Velázquez Gemälde »Las Meninas« im Buch? Was symbolisiert es?

Das Gemälde »Las Meninas« ist ein Rätsel. Man kann es jahrelang anschauen und nicht lösen. Wer ist das Subjekt, wer ist das Objekt? Es fordert unseren Sinn für Fokussierung heraus, die Frage, worauf wir schauen und worauf wir achtgeben sollen. Es erschien mir wie eine sehr treffende Metapher für die auf den Kopf gestellte Perspektive des Romans. Wenn wir vom Weltraum aus auf die Erde schauen – was ist unser Fokus? Ist es der wunderschöne, lebendig aussehende Taifun? Oder sind es die unzähligen Leben, die durch den Taifun zerstört werden? Was ist das Subjekt, was das Objekt?

Außerdem liebe ich das Gemälde und wollte darüber schreiben!

Der berühmte russische Kosmonaut Juri Gagarin (der 1961 als erster Mensch ins Weltall flog) soll angeblich gesagt haben, dass er Gott im Weltall gesucht, aber nicht gefunden habe. »Manchmal möchte Nell Shaun fragen, wie er Astronaut sein und gleichzeitig an Gott glauben kann, den Gott aus der Schöpfungsgeschichte, doch sie weiß, wie seine Antwort lauten würde. Er würde fragen, wie sie Astronautin sein und nicht an Gott glauben kann«, heißt es im Buch. Die Astronaut/innen befinden sich in einer außergewöhnlichen Situation und die Möglichkeit des Todes ist immer da. Sind Sie religiös?

Ich bin nicht religiös, aber ich würde sagen, ich bin dem religiösen Glauben gegenüber radikal aufgeschlossen. Nochmals: Eine niedrige Erdumlaufbahn ist ein Mikrokosmos der Situation, in der wir uns schon immer befinden, und daher keine außergewöhnlichere existenzielle Ausnahmesituation. Die 400 Kilometer Entfernung von der Erde ermöglicht uns, binäre Positionen hinter uns zu lassen: Gott oder nicht Gott. Tod oder ein Leben nach dem Tod. Vielleicht gibt uns dieser Aussichtspunkt einen ausreichenden Begriff von dem Wunder als primärer Haltung. Zuallererst ist da ein Wunder, und wir können es Gott zuordnen oder einer anderen Gottheit oder einem anderen Glaubenssystem oder niemandem. Das Wunder bleibt. Das Wunder ist immer da. Umso mehr, wenn wir mit einer ungewohnten Perspektive konfrontiert sind.

Wir Menschen sind im Wortsinn Sternenstaub. Was ist der Mensch angesichts des Universums, wie wichtig oder nichtig, wie bedeutend oder unbedeutend?

Es bräuchte jemand sehr viel Klügeren als mich, um diese Frage zu beantworten! Wie können wir um unsere Bedeutung wissen? Wir haben keine Vorstellung davon. Ich persönlich finde die Vorstellung unserer eigenen Bedeutungslosigkeit tröstlich und fühle mich von der Idee entmutigt, dass wir kosmisch gesehen wichtig sind. Besonders, wenn man bedenkt, welch stümperhaften Job wir auf der Erde verrichten.

Ich denke mehr über unsere Bedeutung in Bezug auf anderes Leben auf der Erde nach und darüber, welche Auswirkungen das, was wir tun, auf dieses andere Leben hat. Auch darüber, dass wir nicht »besser« oder »höher entwickelt« oder anderen Lebewesen oder Dingen gegenüber »überlegen« sind, und wir daher kein Recht haben, sie schlecht zu behandeln oder zu zerstören.

Aufgrund der andauernden politischen Auseinandersetzungen auf der Erde sollen die amerikanischen, japanischen und europäischen Astronaut/innen und die russischen Kosmonauten ihre je eigenen Toiletten auf der Raumstation benützen. Die Crew macht sich im Buch darüber lustig. Was hat es damit auf sich? Gibt es einen realen Hintergrund?

Ich verstehe die ISS als eine Bastion internationaler Ko-Existenz und als einen sinnvollen Versuch, Frieden zwischen den Nationen zu stiften. Seit 25 Jahren leistet sie Erstaunliches an Technologie und Diplomatie, und im Moment ist sie tatsächlich der einzige Ort, an dem Russland und der Westen friedlich zusammenarbeiten. Sie ist wie eine Zeitkapsel, eine voller Hoffnung – leider einer Hoffnung, die darum kämpft, der Realität standzuhalten. Ich wollte an dieses wunderschöne Raumschiff erinnern, so, wie es in den letzten Jahren seines Bestehens ist.

Was die Toiletten betrifft: Ja, es gibt welche im russischen Sektor der ISS und welche im amerikanischen Sektor, und normalerweise werden sie von Astronaut/innen und Kosmonaut/innen gleichermaßen benützt (auch wenn die Toiletten unterschiedliche Technologien verwenden und verschiedene Schulungseinheiten für ihren Betrieb erfordern). Aber vor einigen Jahren gab es einen diplomatischen Streit zwischen Russland und der USA und die Mitglieder der ISS wurden angewiesen, nicht die Toiletten der jeweils anderen zu benützen – ein Umstand, den ich sehr amüsant und faszinierend finde. Dieses brillante Detail wollte ich im Roman verwenden. Und es war auch ein Weg, auf die Situation auf der Erde zu verweisen, auf Russlands Krieg mit der Ukraine und die gescheiterte Beziehung zwischen Russland und dem Westen.

Die Kriege, der Klimawandel: Unsere Welt ist mit so vielen Problemen und Katastrophen konfrontiert, die unlösbar scheinen. Aber Ihr Roman gibt der Verzweiflung keinen Raum. War es tröstlich, ihn zu schreiben und stattdessen einmal die unglaubliche Schönheit unseres Heimatplaneten in den Mittelpunkt zu stellen?

Es war wirklich tröstlich. Ich habe ihn in gewisser Weise geschrieben, um getröstet zu werden. Ich wollte eine Perspektive finden, von der aus ich die Welt in all ihrer Schönheit und all ihrem Elend sehen konnte. Ich wollte all das, was staunenswert und faszinierend ist am Leben auf der Erde, genauso im Gedächtnis behalten wie den Schmerz und schauen, ob ich gleichzeitig darüber schreiben kann. Irgendwie.

Chies Mutter stirbt, während Chie im Weltraum weilt. Alles, was von ihrer Mutter übrig ist, befindet sich dort unten, heißt es im Buch. Und an einer anderen Stelle schreiben Sie: Die Erde ist eine Mutter, die darauf wartet, dass ihre Kinder zurückkehren. Mich haben diese Passagen tief berührt, auch, weil ich vor Kurzem meine eigene Mutter verloren habe.

Es tut mir sehr leid, das von Ihrer Mutter zu hören. Ich glaube, ich wollte beim Schreiben dieser Passage einige der Gedanken und Sorgen, die ich wegen meiner eigenen Mutter hatte, der es nicht gut geht, verarbeiten, meine Ängste um ihren möglichen Tod. Ich denke oft darüber nach, dass Materie konstant ist. Sie kann nirgendwo hingehen. Wenn wir die Atmosphäre nicht mit einer Rakete verlassen, sind wir für immer innerhalb der Atmosphäre gebunden. Alles, was darin enthalten ist, wird immer da sein und wird für immer in verschiedenen Formen recycelt. Wenn jemand stirbt, bleibt seine Materie übrig und seine Energie ist im Wortsinn nie weg. Das ist nicht unbedingt ein großer Trost, wenn es überhaupt einer ist, für jemanden, der trauert. Aber es berührte mich, dass Chie von oben auf die Erde blicken und sehen kann, wie der gesamte Planet innerhalb der Atmosphäre enthalten ist und eine klare Vorstellung davon haben könnte, dass ihre Mutter noch da ist und immer da sein wird.

Und welche österreichischen Autorinnen und Autoren kennen, schätzen Sie?

Ich schäme mich zuzugeben, dass mein Wissen über österreichische Autor/innen sehr gering ist. Die einzigen, die ich gelesen habe, sind Stefan Zweig und Rilke, die ich beide liebe. Es gibt so viel zu entdecken und eines meiner Ziele für nächstes Jahr ist es, mehr zeitgenössische Literatur in Übersetzungen zu lesen, besonders von Frauen. Ich werde sicherstellen, österreichische Autor/innen in dieses Vorhaben miteinzubeziehen! Aber in der Zwischenzeit vergeben Sie mir …


Die 1975 in Kent geborene, heute in Bath ansässige Britin Samantha Harvey studierte Philosophie und Kreatives Schreiben, das sie auch unterrichtet. Sie lebte in Irland und Neuseeland, lehrte in Japan und ist Mitbegründerin einer karitativen Umweltschutzorganisation. Ihre Bücher »Westwind«, »Tage der Verwilderung« über einen an Alzheimer erkrankten Mann, der mit der Wahrheit hinter seinen Erinnerungen ringt, das Memoir »Das Jahr ohne Schlaf« (über ihre eigene Schlaflosigkeit) und »Umlaufbahnen« wurden vielfach ausgezeichnet.

Samantha Harvey
Umlaufbahnen
Ü: Julia Wolf
dtv, 224 S.