„Aus der Traum (Kartei)“: Der Lyriker und Essayist Durs Grünbein und seine poetischen und politischen Reflexionen von der Antike bis in die Gegenwart. Im Interview spricht er über seine Liebe zur Poesie, die DDR und die inhumane Rhetorik heutiger Politiker. Brillant, bewegend, hochaktuell.
Buchkultur: Sie sind einer der bedeutendsten Lyriker der Gegenwart. Lyrik aber gilt gemeinhin als unverkäuflich, als Nebenprodukt, als elitär, als Stiefkind der Literatur.
Grünbein: Als elitär ist mir die Poesie nie erschienen. Alle Dichtung, die mir etwas bedeutete, hat mich immer unmittelbar angesprochen. Ich kenne das Vorurteil, aber es kehrt sich gegen die Gesellschaft, sobald man darüber nachdenkt. Es ist das Vorurteil einer Marktwirtschaft, die alles auf leichten Zugang hin, schnelle Verwertung abtastet. Die Poesie entspricht allerdings nicht den Algorithmen des größten gemeinsamen Nenners. Am ehesten ist sie noch den edlen Produkten vergleichbar, die jeder gern haben will, die aber unbezahlbar sind – Kaviar, Thunfisch, Whisky, Champagner. Das Problem in der Marktwirtschaft ist nur, dass Poesie nicht handelbar ist. Nicht wie Gemälde, seltene Sammlerstücke, teurer Schmuck – aber eigentlich ist sie genau das, ein Schmuck der Seele, der aber nichts kostet. Poesie, und das ist die gute Nachricht, ist nicht Teil der Konsumwelt. Ein Paradox: Wie kann etwas, das soviel bedeutet und so vielen Einzelnen etwas bedeutet, so wenig kosten? Eigentlich müssten die Gedichtbände der großen Dichter (und die Namen kennt man) mit Gold aufgewogen werden. Da aber die Dichter in aller Regel bescheiden sind (und bescheiden gemacht werden durch diesen irrsinnigen Markt) fallen sie durch das Sieb. Zeile für Zeile. Jeder Wirtschaftsberater, jeder Anwalt, jeder Guru und jeder Coach lässt sich seine bescheidenen Weisheiten mehr kosten als der Dichter, der wirklich etwas zu sagen hat – aber es wird nicht bezahlt. Das ist die Schieflage, in die eine durch und durch ökonomisierte Gesellschaft den Verfasser von Versen gebracht hat. Es gab einmal die Vorstellung, gerade in der Moderne, dass die Lyrik vollkommen autonom sein müsse, nur einem Geheimzirkel zugänglich – Baudelaire hat den Traum als erster geträumt, ein Mensch, der vom Familienvermögen abhängig war. Dann kam Mallarmé und sein deutscher Bote, Stefan George, der einen Kreis bildete, einen sehr exklusiven Kreis. George war das letzte geistesaristokratische Aufbäumen der Poesie in Deutschland. Denn plötzlich gab es die jungen Wilden, die alle Werte umstürzten, das Erhabene mit dem Trivialen kreuzten, das Heilige mit der Satansmesse. Rimbaud war ihr Anführer, der Poète maudit. Mit diesem Archetypus begann das Spiel (und das Liebäugeln) mit der Verfemung. Von nun war klar: Wir sind die Schwierigen in diesem Spiel, und es wird immer zu Missverständnissen kommen. Wenn der Markt die Literatur erobert, worauf muss er achten? Dass ein Produkt daraus wird, dass die Texte vermittelbar sind. Dass sie einem Publikumsinteresse entgegenkommen, einem Verlangen nach Einfühlung, Vermittlung, Sensation und Unterhaltung, zuletzt nach Fortsetzbarkeit. Am besten also: der Roman. Damit war schon die literarische Serie geboren, im Grunde die Fernsehserie, der Serienfilm. Das alles kann und wird die Dichtung nicht bieten, soviel steht fest. Dabei kann sie so gut wie alles. Und nun die gute Nachricht: Ich kenne keinen Dichter, der sich von den Gesetzen auf dem Buchmarkt einschüchtern ließe.
Sie wollten nie etwas anderes als Gedichte schreiben?
Wer das von sich sagen könnte. Wir weichen alle von der ursprünglichen Fährte ab. Aber es gibt einen Grundtrieb. Wenn es einen immer wieder zum zeilenweisen Schreiben zurückzieht, dann ist man wohl Dichter. Aber die Zeilen werden schlechter bezahlt als die Spalten. Und die Spalten schlechter als die ganzen Seiten, erst recht, wenn sie am Ende einen großen Roman ergeben, der in Massenauflage gedruckt wird. Die Romantik heftet sich an die Zeilen, aber die Gesellschaft als ganze sieht und schätzt nur dicke Bücher – und die bringen die Kohle. Wer bei den Gedichten bleibt, führt ein Leben im Verborgenen. Wenn ich unterwegs bin, habe ich immer irgendeinen Gedichtband bei mir. Ich lese meinesgleichen und spalte mich damit, ob ich will oder nicht, von der Gesellschaft ab. Es ist die Sorge um das Seelenheil. Der Gedanke, ich stehe irgendwo in der Schlange und kann nichts lesen, macht mir Angst. Ich komme ins Gefängnis und habe keine Gedichte dabei. Dann müsste ich sie mir selber schreiben. Das macht man dann in der Einsamkeit, so fing das an.
Da sind Sie uns gegenüber allerdings weit im Vorteil: Sie können das ja.
Das ist aber kein Können. Es ist nur die fortwährende Sehnsucht, es wieder und wieder zu können. Da gibt es große Schwankungen, Auf- und Ab-Phasen. Das Schwierigste ist der einzelne Vers. Gegen den wenden sich heute übrigens die Jüngeren. Sie gehen vom einzelnen Wort aus und konstruieren Wortfelder. Man kann – das zeigt sich gerade heute –, das Gedicht nach allen Seiten hin manipulieren. Man legt sich zunächst Worttabellen an, und los geht es. Kein Zufall, dass die interessantesten Experimente heute seriell geraten. Man arbeitet in Zyklen, das Einzelgedicht als Ereignis spielt nur noch eine Nebenrolle. Es ist, als wären viele auf der Suche nach einem verborgenen Algorithmus, der dem Gedichteschreiben innewohnt. Gibt es da vielleicht ein lyrisches Periodensystem der Worte, eine Ordnung der Sprachbilder? Es ist ein quasi-wissenschaftlicher Ansatz. Sehr verführerisch für viele, weil man im Team arbeiten und sich Aufgabenfelder schaffen kann. Aber den Vers, den einzelnen Vers, einen Akkord, der da ist und von dem man nicht weiß, wieso der plötzlich so da ist und woher seine Wirkung rührt, den kann man nicht manipulieren. Der muss wie von selbst kommen. Also ist es eigentlich ein fortwährendes Warten darauf. Sie mag noch so leicht daherkommen, Dichtung bleibt doch das Widerständige. Sie entzieht sich ihrer Natur nach den einfachen Ausdruckslösungen. Sie wird auch das konzeptuelle Schreiben immer wieder überleben, weil sie das Überraschungsmoment braucht. Dass sie sich nie begnügen kann mit den einmal gefundenen Formeln, setzt den Dichter unter Druck. Weshalb es immer ein gewisses Lebensrisiko war, abzustürzen bei dieser Soloveranstaltung, in die Einsamkeit zu stürzen, ins Unverständliche. Das Gedichteschreiben geht buchstäblich mit dem Risiko einer hohen psychischen Instabilität einher.
Auch nach so vielen Jahren noch? Sie sind doch einer der bedeutendsten Lyriker unserer Zeit.
Es wird nicht einfacher mit den Jahren, soviel steht fest. Aber warum auch? So ein Menschenleben selbst wird ja auch nicht einfacher. Wobei es vielleicht etwas unzeitgemäß ist zu sagen: Poesie lebt von den Herzens-, den Gedankensprüngen. Aber die Dichtung muss ja nicht zeitgemäß sein, es reicht, wenn sie geistesgegenwärtig ist.
Man kann sich gar nicht ausruhen auf dem, was man schon geschrieben hat?
Nein, es gibt kein Ausruhen. Man kann nur immer nach vorne blicken und hoffen, dass morgen wieder ein guter Einfall kommt.
Wie darf man sich das vorstellen? Sind das genau diese „Zündkerzen“, wie ja auch Ihr letzter Gedichtband heißt?
Mit dem Titel wollte ich tatsächlich auf dieses Zündmoment hinweisen, das Funkenschlagen. Dass da im Gehirn etwas zündet. Das »punktuelle Zünden der Welt im Subjekt«, so lautete eine schöne Definition des Gedichtes bei dem Hegelianer Friedrich Theodor Vischer. Da ist schon eigentlich alles drinnen. Das, was im Bruchteil von Sekunden geschieht, aber eben auch eine gewisse Intensität mit sich bringt, die man eigentlich dann auch sofort spürt, auch erstmal selber zu spüren bekommt. Es steckt auch die Fortbewegung in dieser Formel. Das ist übrigens eine sehr alte Vorstellung. Schon der älteste Vorsokratiker, Heraklit, spricht von diesen seltsamen Blitzen. Alles steuert der Blitz, heißt es in einem der Fragmente. Das zündende Element, die Energie, die aus der Verbrennung kommt. Auch der Einfall ist so ein Blitz, die Idee, aus der nachher alles andere entsteht. In der Renaissance haben die Künstler sich gefragt, welches wohl die wichtigste der Künste ist. In langen Disputationen wurde dieser Wettstreit der Künste ausgetragen, der »Paragone«. Bis jemand auf die Idee kam: nicht die Bildhauerei, nicht die Malerei, auch nicht die verschiedenen Genres innerhalb der Malerei, sondern das »disegno«, die Zeichnung. Sie ist das Entscheidende in allen Künsten und auch in der Architektur. Der erste Einfall in Form von wenigen Strichen. Man sieht das heute noch bei den Architekten. Einmal stand ich in einem dieser fantastischen Gebäude von Frank Gehry (in der Pariser Fondation Louis Vuitton), und an der Wand hing eine Zeichnung des Architekten, die dieses Gebäude in nuce zeigte, als bloße Idee. Nachher wird dann ein ganzes Architektenbüro damit beschäftigt und viele Gewerke und Handwerksbetriebe, viele Millionen werden umgewälzt und am Ende steht da ein Haus. Aber es war eigentlich schon auf dem schlichten Blatt Papier enthalten, und das, meine ich, ist die Erscheinung des Blitzes. Deshalb sind Skizzenbücher so schön. Und wir sehen es auch bei den Dichtern, bei den Schriftstellern. Manchmal ist noch das Blatt mit den ersten Zeilen enthalten, und das war der Funke.
Sie wuchsen in Dresden, der ehemaligen DDR, auf. Im Februar erscheint Ihr neues Buch „Aus der Traum (Kartei)“. Wie darf man den Titel verstehen? Ist das auch politisch gemeint, auf vergangene oder gegenwärtige Realitäten bezogen?
Es klingt ein wenig provozierend – zumindest für Realisten. Ein wenig nach: Die Utopien sind alle aufgebraucht. Aber so schlimm ist es am Ende doch nicht. Mir ist nur klargeworden, ich kann der Banalität des real-existierenden Kapitalismus nicht entfliehen. Und manchmal scheint es, als hätte die Menschheit das Träumen aufgegeben, wobei im Alltag und bei der Partnersuche das Träumen weitergeht. Es geht aber auch in der Dichtung weiter und in den Künsten, das ist die Pointe. Die Imagination ist die größte Gabe: sich etwas anderes als das, was ist, vorstellen zu können. Darum müssen die Träume der Künstler auch nicht dieses Zwangsläufige haben, was die Psychoanalyse lange dem Traum unterstellte. Shakespeares Prospero hatte recht: Wir sind wirklich aus solchem Stoff, aus dem die Träume gemacht sind, und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt. Der Traum und die Existenz – das ist die Relation. Darüber gibt es im Buch einen Vortrag und etliche Aufzeichnungen. Im Ganzen ist es eine Sammlung verschiedenartiger Texte aus den letzten Jahren. Es gibt eine Sektion literarischer Essays zu verschiedenen Autoren, eine Sektion Biografisches, mehrere Reden, Vorträge, Aufzeichnungen, dazwischen auch Gedichte, die in den Zusammenhang gehören. Es gibt verschiedene Arbeitsbücher, in denen ich unter verschiedenen Gesichtspunkten Material sammle, daraus ist manches eingefügt. Der Titel kommt daher, dass ich viel auf Karteikarten schreibe. Ganz einfach also: „Aus der Traumkartei“. Solange sich diese Karteikarten füllen, ist der Traum nicht aus. Aber man kann man es natürlich auch als Schlagwort empfinden – und warum auch nicht. An den Gedichten zeigt sich, wie mein Schreiben oft funktioniert. Eine fast bipolare Spannung: Es will auf die einzelne Verszeile hinaus und ufert zum Essay aus. Oder umgekehrt, der geplante Essay schrumpft zu einem Gedicht. Immer ist das Lyrische auch das Diskursive, und der Diskurs sucht in Gedichtzeilen Halt. Den Band beschließt ein längeres, neues Gedicht mit dem Titel „Die Insel, die es nicht gibt“. Da klingt das Grundthema wieder an, die Frage nach der verschwundenen Utopie. Es geht um eine italienische Insel im Mittelmeer, Ventotene – eine Insel, auf der von einigen verbannten Kommunisten und Sozialdemokraten zum ersten Mal ein neues Europa jenseits der Nationalstaaten gedacht wurde. Das war auch so ein Beginn: die Idee der europäischen Integration, um zukünftig jeden Krieg in Europa unmöglich zu machen. Da wird der Bogen zur zweiten Sektion des Bandes geschlagen, mit Texten über Freiheit und Unfreiheit, über Solidarität und die Tage des Mauerfalls, aber auch über den Aufbruch in die politische Kälte, in der wir jetzt leben. Ich bin ja durch einen Zufall in die Geschichte hineingeraten. Durch einen Rotstiftstrich auf einer Landkarte, damals in Jalta, als die deutsche Teilung besiegelt wurde. Obwohl die Amerikaner und die Russen sich an der Elbe trafen (bei Torgau), lag die spätere innerdeutsche Grenze viel weiter westlich. In Sachsen war man gewissermaßen auf russischem Territorium. Davon handeln meine Gedichte von Anfang an, davon handeln auch die „Jahre im Zoo“. Und in diesem Band jetzt mit Aufsätzen und Notaten werden die historischen Etappen bis zur Auflösung gestreift. Es gibt da auch ein Filmtreatment zur Wende, einen Sprechertext zu den Oktobertagen, und eine Erzählung über die Nacht des 9. November, in der in Berlin die Mauer fiel. Ich bin da als Kind schon in etwas hineingeraten, das ich bis heute zu verstehen versuche und das immer neue Recherchen erfordert. Das ist der Ausgangspunkt. Wenn ich mich mit Westdeutschen meines Alters vergleiche, dann geht es immer darum, wer welche akademische Ausbildung hat. Selbst unter Schriftstellern werden immer die Studienfächer angeführt, und so steht es auch in den Klappentexten der Bücher. Und ich, was soll ich sagen? Ich habe die Nationale Volksarmee der DDR studiert, ich habe Demonstration studiert, habe sogar kurz Gefängnis studiert, ich habe Auswanderung studiert. Letzten Endes habe ich studiert, wie man ein politisches System überwindet. Noch immer frage ich mich, wofür diese Lektion gut war.
Man hat Sie inhaftiert?
Ja, während der Demonstrationen im Oktober 1989. Einmal habe ich die „Inneren Organe“ des Staates kennengelernt. Gottseidank nur für eine Nacht, dann ließ man uns wieder laufen mit einer Ordnungsstrafe. Manche Autoren behaupten ja, das sei die hohe Schule, in einer Gefängniszelle anzukommen. Es ist aber nicht gerade das, was man unter einem Studienabschluss versteht. Was ich nie gelernt habe, ist anzukommen. Das ist schwierig. Mir scheint, ich komme seither nirgendwo mehr an.
Sie wurden unter keinen leichten Umständen groß. 2019 jährt sich der Mauerfall zum dreißigsten Mal. Sie wollten schon vorher ausreisen. Ihr Antrag wurde aber nicht genehmigt. Aber Heiner Müller hat Sie entdeckt, geschätzt und gefördert.
Ich habe mein Studium abgebrochen, weil ich in den Westen wollte. Ich wusste, das wird eine Schlammschlacht, da wollte ich mich lieber selbst exmatrikulieren. Und es kam dann auch so. Als die Sache ruchbar wurde, wurden meine Kommilitonen alle zu einer Sitzung einberufen und mussten sich von mir distanzieren. Später fragte der Staatssicherheitsbeamte mich, was ich im Westen wollte. Da berief ich mich ganz naiv auf die Weltkultur, ich wollte keine politische Debatte. Ich wollte die Robert-Wilson-Inszenierungen an der Westberliner Schaubühne sehen, ich war schließlich Student der Theaterwissenschaften. Außerdem wollte ich die Museen der Welt besuchen können, in Paris, London, New York. Da hatte ich schon Heiner Müller kennengelernt, mit dem ich mich manchmal traf. Er hielt mich auf dem Laufenden über die Theaterereignisse in Westeuropa. Von dem Moment an, da man einen Ausreiseantrag laufen hatte, war man vogelfrei. Man musste sich einen Job suchen, um nicht als »asozial« eingestuft zu werden. Also arbeitete ich im Museum, machte Putzdienste, half bei Theaterproduktionen mit. Ein befreundeter Regisseur nahm mich in die Provinz mit, wo er den einen oder anderen Sonderauftrag ergattert hatte. Dann bekam Heiner Müller, ohne mein Wissen über eine Schauspielerin, mit der ich damals lebte, Manuskripte von mir in die Hände. Und dann ging alles sehr schnell. Er vermittelte die Sachen weiter an den Suhrkamp Verlag, und das war dann das erste Buch „Grauzone morgens“. Es war eine aufregende Zeit.
Welche Bedeutung hatte das Gedicht in der DDR? Bot es auch eine Möglichkeit der Flucht vor den realen Umständen?
Es war nicht das Gedicht als Rückzug ins Private, sondern eine äußerst aktive Sache. Es gab ja damals diese sogenannte Prenzlauer-Berg-Szene, und da waren gerade Gedichte sehr wichtig. Die hatten durchaus aggressives Potenzial, das waren Kampfansagen. Das hatte in der Szene einen hohen Stellenwert, gar keine Frage. Es fanden Gedichtlesungen statt in privatem Kreis, zugleich wurde Malerei gezeigt, man experimentierte mit Fotographie – das ging alles nahtlos ineinander über. Vorgelebt hatten das alles die amerikanischen Beatnik-Autoren. Bei den Beatniks hatte die Lyrik einen sehr hohen Stellenwert, denken Sie nur an Ginsberg. Gleich nach dem Mauerfall kam er nach Ostberlin und wollte die jungen Dichter kennenlernen. Bei einem Mittagessen im Künstlerklub musste ich neben ihm sitzen und wurde ausgefragt. Eine der ersten Fragen war: “Are you gay?” Heute scheint die Lyrik in Amerika nicht mehr die dominierende Rolle zu spielen. Heute wird der Buchmarkt vom großen Roman dominiert. Ich habe sie alle heraufkommen sehen, Franzen, Eugenides, Foster Wallace. Dann haben die Jüngere angefangen, sich nur noch daran zu orientieren. Die müssen den großen Roman schreiben, um ins literarische Leben einzutreten. Ein Langgedicht, auch ein Paukenschlag wie damals Ginsbergs “Howl”, genügt da schon lange nicht mehr.
Sie haben sich Moden und Trends nie angedient oder sich davon verleiten lassen.
Die Dichtung, wie ich sie verstehe, ist sehr nah bei der gesprochenen Sprache. Die Satzstruktur ist eine Basis, aber es finden leichte Verschiebungen statt. Eine Nähe zur Dramatik ist da. Die alten griechischen Dramen haben mich früh beschäftigt. Deshalb war Heiner Müller dann genau der richtige Gesprächspartner. Seine Stücke haben mich mehr interessiert als die Romane der bekannten DDR-Schriftsteller, wie etwa Christa Wolf, Stefan Heym – alles ehrenwerte Erzähler. Müllers Dramensprache lag mir viel näher. Ich habe damals auch noch sehr viel mehr Entwürfe für Theaterstücke gemacht. Lange Zeit habe ich gehofft, das Versdrama habe noch eine Chance. Aber es ist anders gekommen. Auf den europäischen Bühnen haben wir heute eher das schnelle Konversationsstück. An gebundene Sprache ist da nicht mehr zu denken. Weshalb ich dann logischerweise eines Tages bei der Oper landen musste. Dort ist der Stellenwert des Einzelwortes weit größer, und das Wort ist auch anders fixierbar, es behält seine poetische Kraft. Vielleicht sind es ja anthropologische Typen des Schreibens. Es ist eher selten, dass einer alles kann oder können soll. Das muss ja auch nicht sein. Bei Müller war es klar. Er wollte immer weiter Stücke schreiben, und er hatte diese Vorstellung vom dramatischen Meisterwerk. Als ihn der Krebs dann ereilte, sagt er es selbst in dem Gedicht „Herzkranzgefäß“: „Asche der Traum von sieben Meisterwerken“. Diese Einsicht hat mich damals fasziniert: Da war jemand, der hatte eine eigene Lebensagenda als Dichter. Der nicht getrieben war von Stipendienvorgaben und Buchmesseterminen. So sollte es sein. Wenn man aber den äußeren Vorgaben des Literaturbetriebes nicht folgt, nimmt man in Kauf, dass um einen herum nach und nach eine vollkommen neue Bücherlandschaft entsteht. Heute steuert der Buchhandel vieles, es werden sogar Anreize durch eigene Buchhandelspreise geschaffen. Das alles hat das Gelände sehr verändert.
Zum Nachteil der Lyrik?
Nicht spezifisch nur der Lyrik, eher zum Nachteil des Ungewöhnlichen, Spontanen, Radikalen und der wirklich wundersamen Erscheinung. Es ist sehr viel kalkulierbarer geworden.
Die Oper „Die Weiden“, zu der Sie das Libretto verfasst haben, thematisiert den Rechtsruck in einem Land am Strome, das deutlich an Österreich gemahnt, und verbindet die Nazi-Vergangenheit mit der Flüchtlingsthematik. Die Regierung unter Bundeskanzler Kurz hat den Austritt Österreichs aus dem UN-Migrationspakt beschlossen. Von Innenminister Kickl stammt das Zitat einer „konzentrierten Haltung“ von Flüchtlingen. FPÖ-Landesrat Waldhäusl ordnete Stacheldraht und Hunde im Quartier Drasenhofen für minderjährige Flüchtlinge an. Was sagen Sie zu alldem? Was würden Sie sich wünschen, das „Die Weiden“ im Bewusstsein der Menschen verändern?
Es geht um Europa, und der Strom ist das Leitmotiv. Ein Fluss in Mitteleuropa, der mehrere Länder verbindet, die sich als Nationalstaaten begreifen, ein Fluss, der auch Grenzen markiert. Die heutige Situation ist komplex, das zentrale Problem ist die Migration, ausgelöst durch den Prozess der Globalisierung. Man weiß nicht, wo man anfangen soll. Bei der Sprache oder bei den politischen Reaktionen. Was die Reaktionen betrifft: Wir sehen gerade zu, wie ein großer Teil der Menschheit in eine rechtlose Lage gerät. Wir hatten diese Lage zum Beispiel schon einmal zu Beginn der 30er Jahre, als in Europa die großen totalitären Regime etabliert waren, der Bolschewismus und der Faschismus. Da gab es plötzlich Millionen Menschen, die auf der Flucht waren und sehr viele, die ihre bürgerlichen Rechte verloren hatten. Sie waren auf einmal staatenlos, “displaced persons”. Am Ende des Zweiten Weltkrieges setzt sich das fort. Viele der aus den Konzentrationslagern befreiten, vor allem jüdische Bürger waren anschließend weiterhin “displaced”. Wer einer der Nationen angehörte, konnte nach Hause gehen, wenn auch schwer beschädigt. Aber sie hatten ein Zuhause. Die Frage, die wir jetzt wieder vor uns haben, ist: Welches Zuhause hat jeder noch? Dahinter steckt eine große Völkerbewegung, Völkerwanderung, die aber oft erzwungen ist, einerseits durch Kriege und andererseits durch Naturkatastrophen oder Klimaveränderungen, aber letztlich auch durch die Wirtschaft, die Ungleichheit der Entwicklung, das alles, was wir Globalisierung nennen. Das bringt notwendig wie ein Naturgeschehen die Migration hervor. Die kann nicht so ohne weiteres gestoppt werden. Sie muss reguliert werden, das ist völlig klar. Es geht nun darum, wie man das reguliert. Im Moment ist die Nervosität in vielen europäischen Staaten so groß, dass man vergisst, dass man es mit Menschen zu tun hat. Das ist das Schockierende, dass man diesen Punkt vergisst: Das sind Menschen mit denselben Rechten wie jeder andere Mensch auf dieser Erde. Sie werden aber behandelt wie Nebenmenschen, Außermenschen, Unmenschen, Menschen zweiter Klasse. Ihre Existenz wird in Frage gestellt, als Flüchtlinge und Asylsuchende werden sie abgewertet. Es wird Politik auf ihrem Rücken gemacht. Es findet eine gewisse Art der Rhetorik statt, die tief inhuman ist. Das kann man ganz objektiv auch so benennen, ohne dass man einem politischen Lager angehört. Das muss als erstes klar sein, egal, wo einer politisch steht: Er muss einsehen, dass es nicht geht, so mit Menschen zu verfahren. Er muss sich zumindest sagen, dass das eines Tages ihm selber oder seinen Angehörigen passieren könnte. Das ist immer das Paradoxon, das ich sehe: Mehrheiten, die von sich nicht die Fantasie haben, dass sie eines Tages auch zu einer Minderheit gehören könnten oder dass sie selber in solche Situationen geraten könnten. Das geht aber ganz schnell, deshalb muss man aufpassen, wie die Bürokratisierung solcher Dinge abläuft. Deshalb wäre es sinnvoll, man könnte weltweit eine Rechtsordnung etablieren, die da Regeln festlegt, die für alle gelten. Deswegen war es nicht unvernünftig, dass die UN ein solches Regelwerk vorlegt. Das hat allerdings tatsächlich viele Schwachstellen, und es war klar, dass die Nationalstaaten da zum Teil blockieren. Insofern kommt es zu keinem Vertragswerk, nichts wird ratifiziert. Es soll so eine Art unverbindliche Richtlinie sein für den Umgang, aber nicht rechtsbindend. Also müsste man sich jetzt im Einzelnen dann doch wieder die Asylgesetzgebung der einzelnen Länder ansehen. Aber auch an der wird gedreht. Das ist die Situation. Und natürlich sehe ich, dass viele Parteien, populistische oder rechtsorientierte Parteien, hier vor allen Dingen politisch Kapital schlagen. Die Unsicherheit, die Ängste, Sorgen der Menschen ausnutzen, zum Teil sinnlose Rechnungen aufmachen und eine Hetzrhetorik führen, übrigens in keiner Weise auch nur eine Idee haben, wie diese Probleme eines Tages besser gelöst werden können. Aber sie wollen politisch punkten und zwar – das ist besonders schäbig –, auf dem Rücken der noch Schwächeren.
Dabei sind die Asylanträge in Österreich stark rückgängig. Man ist auf dem Stand von 2011.
Den Rechten wird das Thema ausgehen, sobald hier Regeln geschaffen werden. Aber davon sind wir noch weit entfernt.
Diese Zahlen sind, scheint mir, aber wenig bekannt.
Damit sind wir bei den Medien, bei der Presse. Die Frage ist: Wie findet Aufklärung statt. In Politikerdebatten werden diese Zahlen hin- und hergeworfen, und das sind ja nur zum Teil verbindliche Statistiken. Warum kann man sich nicht wenigstens auf Analysen einigen? Warum gibt es zum Beispiel nicht eine viel positivere Presse über die Integrationsarbeit oder über den Prozess der Europäisierung? Warum hat die Presse vorwiegend ein Interesse an negativen Meldungen? – Weil sich die besser verkaufen, Negativschlagzeilen sind einfach eingängiger. Streit verkauft sich besser. Oder wenn ein rechter Politiker irgendein Unwort in Umlauf setzt, dann ist das in jedem Fall ein kleiner Skandal. Das ist ganz simpel. Das sind nicht nur Entgleisungen, sondern ganz bewusste Provokationen, also Kalkül von Parteipolitik. In Deutschland sagte einer dieser Parteiführer (AfD-Vorsitzender Alexander Gauland, Anm. d. Red.), man müsse die Grenzen des Sagbaren erweitern. Das ist eine Kampfansage, die ankommt beim Publikum.
Wie ist das möglich, dass heute alles gesagt werden darf?
Interessanterweise denken diese Kreise ja, dass hier ein tiefdemokratisches Geschehen sich Bahn bricht. Dass dies der Kampf sei, wie er normalerweise in einer Demokratie stattfindet: Mehrheitsmeinung, Volksstimmung, Volksstimmen – das alles ist gerade in einer vollkommen neuen Situation. Die Definition, wer ist eigentlich das Volk, die Bevölkerung, der Demos, die Plebs, das Wahlvolk – diese Dinge sind alle zur Zeit in Bewegung. Die demokratischen Parteien suchen nach Wählerstimmen. Zugleich merken sie, dass es enorme Erdrutsche und Abwanderungsbewegungen gibt. Die alten Volksparteien sind in der Defensive. Es herrscht eine gewisse Panik in den Demokratien. Das politische Feld ordnet sich täglich neu.
Diese Verrohung der Sprache muss Ihnen als Dichter naturgemäß große Sorgen machen. Michael Köhlmeier hat in seiner Rede in der Hofburg betont, wie die vielen kleinen Schritte zum großen Bösen führen können. Wie gefährlich ist dieser Gewöhnungseffekt: dass Politiker alles sagen dürfen, ohne dass es Konsequenzen gibt?
Die Vulgarisierung, die affektive Aufladung von Sprache, eine Unmöglichkeit, überhaupt zu argumentieren, eine Unversöhnlichkeit, Unbarmherzigkeit – das sehe ich alles. Die allgemeine Herabsenkung des Sprachniveaus, die Niedertracht, das Unedle sind typisch für eine Gesellschaft der falschen egalité. Das gab es immer in Zeiten der Umwälzung, wenn das Unterste zuoberst kommt. Ein Bauspekulant wird Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika … Zugleich wissen wir alle, dass Gesellschaft am Ende nur funktioniert, wenn wir wieder eine gemeinsame Sprache finden. Ich bin tatsächlich tief entsetzt auf einer persönlichen Ebene, weil ich mir sage, wir hatten doch eine kulturelle Erziehung. Wir hatten die Literatur in allen diesen Ländern, die wenigstens durch die Schule noch ein wenig transportiert wurde. Da hatten Menschen sehr früh Muster verbindlichen sprachlichen Ausdrucks und es gab noch gewisse Ideale in der Gesellschaft. Ich sage schon lange nicht mehr, dass die Dichtung hier Maßstäbe setzt. Aber im Ursprung war sie hochkondensierte Sprache, hochelaborierte Sprache, an der man sich – egal welchen Bildungsgrad man hatte –, ein wenig auch ausrichtete. Wenn das alles weggeschnitten oder marginalisiert wird – das ist nicht mehr so wichtig in einer technokratischen, quantifizierten, mathematisierten, ökonomisierten Welt –, dann rächt sich das schließlich. Denn immer war es auch Sprache, Bühnensprache zum Beispiel, die dem Zuschauer, Zuhörer zumindest einen Standard vermittelte. Und jetzt haben wir als einzige öffentliche Sprache die Sprache der Politiker, der Parteien, der Demonstranten auf der Straße, und die gewinnt eine eigene Dynamik. Und dann kommt noch – zufällig alles in derselben Zeit –, die Entwicklung des Internet hinzu. Wenn wir die Zeit kurz nach der Wende 1989 nehmen, die Neunzigerjahre: Da hatten die Deutschen noch andere Sorgen. Aber es gab auch schon erste Anzeichen für einen härteren Verdrängungswettbewerb. Auch damals ließen die sozial Schwachen an den noch Schwächeren aus – Stichwort Rostock Lichtenhagen. Aber die Kontroversen wurden noch in den Talk Shows und in den Zeitungen geführt. Jetzt läuft das alles in den sogenannten sozialen Netzwerken ab, und gewinnt eine ganz eigene unheilvolle Dynamik. Man arbeitet anscheinend jetzt bei gewissen Netzwerken an einem Kodex. Das muss man auch anerkennen. Das ist nun das Neuland. Ich kann nur hoffen, dass es da irgendwann – Erziehung funktioniert ja langfristig – doch einen Kodex darüber gibt, was man posten kann und was nicht. Das ist keine Zensur, das ist eine Frage der Ethik.
Obwohl die Zahlen stark rückläufig sind, werden große Ängste geschürt. Woher kommt diese Angst vor dem Fremden, vor dem Anderen?
Es ist immer das einzelne Negativbeispiel. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, wo die Gefahren liegen. Es genügt eine Messerstecherei, ein Amoklauf, ein Terroranschlag im Zentrum einer unserer großen Städte. Der destabilisiert völlig, der reißt das ganze politische Klima entzwei. Nach diesen großen Zuwanderungen hatten wir verschiedene Straftaten, und die wurden sofort politisch instrumentalisiert. Aber wenn mehrere solcher Ereignisse gleichzeitig passieren, kommt es zur Hysterie. Und da nützt es wenig, die Kriminalstatistik anzuführen und dass es Verbrechen in allen Bevölkerungsschichten gibt – zum Beispiel Wirtschaftsverbrechen, die in der Wirkung viel verheerender sind. Wichtig scheint nun die ethnische oder religiöse Zuschreibung der Straftat. Es scheint etwas anderes zu sein, ob ein Nordafrikaner die Straftat begeht oder ein Bauer aus dem Burgenland. Die Tat des Einheimischen schafft es nicht auf die Titelseite. Es passieren Verbrechen in Familien, es passieren Verbrechen unter Jugendlichen usw. Aber wehe, es ist der Fremde beteiligt, der Barbar, dann wird daraus ein Politikum. In den letzten Jahren waren die Parteien immer im Zugzwang, wenn Ausländer gewalttätig wurden. Man kann sich nur wünschen, dass die Verantwortlichen in Zukunft präventiv agieren. Dass erstens solche Verbrechen schnell geahndet werden, aber auch, dass sie medial nicht immer so hochgespielt werden. Das kann man ja steuern. Dann setzt eine bestimmte Klientel zwar noch immer auf Erregung. Aber es muss ja nicht jedes Mal so ausgehen wie neulich in Chemnitz.
Haben Sie denn Sorge, dass sich die Unheilsgeschichte wirklich wiederholen könnte? Die AfD hat in Umfragen zum ersten Mal die SPD überholt.
Es gibt eine Grenze rechter Politik, die in den westeuropäischen Staaten noch gilt. Die Grenze liegt in der Möglichkeit zu expandieren. Als absolutes Negativbeispiel wirkt hier noch immer Hitlers Kriegspolitik nach. Der Nationalsozialismus war eine Bewegung, die von Anfang an darauf aus war, alle Volksdeutschen ins Reich zu holen. Man wollte, an die Macht gekommen, den Versailler Vertrag revidieren. Erst kam das Saarland, dann die Sudetengebiete, dann der Anschluss Österreichs. Es wurde, entgegen aller Abmachungen, massiv aufgerüstet. Frankreich und dann der Rest Europas konnten sich von Anfang an bedroht fühlen. Was hatte die Legion Condor in Spanien zu suchen? Wie war es möglich, Bomber nach Madrid und Guernica zu schicken – wo Deutschland doch gar keine Luftwaffe haben durfte? Ähnliche Gefahren sehe ich heute eher in Russland. Mit großer Sorge beobachte ich Putins geostrategische Maßnahmen. Das ist eine andere Dimension. In der Straße von Kertsch wurde vorgeführt, wie man die Ukraine, ein souveränes Land, umzingelt und seine Häfen blockiert. In Osteuropa ist die Gefahr von Bürgerkriegen und von äußeren Aggressionen bis heute nicht gebannt. Es geht da auch um das vorhandene Waffenarsenal. In Deutschland haben wir – anders als in Amerika, wo das schon gefährlicher ist –, nicht diese durchgehende Bewaffnung der Bevölkerung. Bei den Amerikanern wäre ich in größter Sorge. Da sind derart viele Waffen in Privatbesitz. Wenn dort ein Bürgerkrieg ausbricht, wie soll der gesteuert werden?
Angela Merkel ist kürzlich als Parteivorsitzende zurückgetreten. Was wird in zwei Jahren sein, wenn es wieder Wahlen gibt?
Die neue Parteivorsitzende scheint ganz zuversichtlich, was das betrifft. Sie hat erklärt, den Deutschnationalen (den »Alternativen«) demnächst Wählerstimmen abzujagen. Nebenbei ist die AfD ja jetzt in ihrer ersten großen Krise. Auch das war vorhersehbar. Ich habe einmal gesagt: Passt auf, wenn die ihre ersten Korruptionsskandale haben, begreifen auch deren Wähler, dass auch die nur mit Wasser kochen. Dass es auch ihnen nur um Posten geht und sie keine weißen Ritter sind. Man hat den Eindruck, dass die CDU nach Merkels angekündigtem Rückzug tatsächlich offensiv darum kämpft, vom rechten Rand Stimmen zurückzugewinnen. Um die SPD steht es allerdings schlimm, das ist wahr, weil sie überhaupt kein Konzept haben, wenigstens im Moment. Die Grünen scheinen gerade alles richtig zu machen, wie die Bayernwahl gezeigt hat. Da tut sich etwas: Es ist der Frühling der Grünen. Das Frustrierende an Politik, ist ihre Unberechenbarkeit – andere sehen gerade darin die Hoffnung. Es ist nicht ausgemacht, was als nächstes passiert, unter anderem, weil wir jetzt so viele junge Menschen haben. Die lassen sich nicht mehr für blöd verkaufen. Die werden hoffentlich mit entscheiden, wie Europa in Zukunft funktionieren soll. Das ist die Lehre aus dem Brexit. Der geht zu Lasten einer Jugend, die beim Referendum damals geschlafen hat. Wenn sie aber erst erwacht … Viele der Probleme, die wir in den ostdeutschen Bundesländern haben, wird gesagt, haben mit dem Langzeitfrust nach der Vereinigung zu tun, die von außen gesteuert war. Es sind vielfach ältere Menschen, Arbeitslose und Standortgebundene, die sich als ohnmächtig empfinden und nun den Rattenfängern hinterherlaufen. Es sind Menschen, deren Lebensbilanz eher negativ ausfällt. In Sachsen zum Beispiel war es immer die CDU, die den Leuten diktiert hat, wo es lang geht. Sie haben von einem Freistaat geträumt, der nie kam.
Den Österreichern ist es aber in den vergangenen Jahren unter der großen Koalition vergleichsweise gut gegangen. Trotzdem wählten zuletzt viele rechts.
Wir haben den Sozialstaat nun überall, der lässt keinen ganz fallen, zumindest wird das behauptet. Der gibt auch nicht weniger Geld für die Bedürftigen aus, nur weil er jetzt auch noch ein paar hunderttausend Asylsuchende alimentieren muss. Das ist bereits Teil der üblen Rhetorik, dass man sagt, das Geld fehlt uns an anderer Stelle. Bei den Dresdner Montagsdemonstrationen der Pegida habe ich mehr als einmal gehört: Und was ist mit »unseren Obdachlosen«? Als ob die Obdachlosen irgendwen interessiert hätten. Es geht um die Verteilung der Steuergelder. Der deutsche Staat war in den letzten Jahren sehr geschickt darin, Steuern einzutreiben. Wenn ich an die Finanzbehörde denke, fällt mir immer Dagobert Duck ein, wie er einen Kopfsprung in seine Schatzkammer macht. Also die Frage: Was stellt man mit all den Steuereinnahmen an? Ich würde mal sagen, wenn es an ein paar Autobahnkilometern fehlte, wäre das auch nicht schlimm.
Oder bei der Rüstung.
Oder im Wehretat. Aber da kommt nun Trump ins Spiel, der sagt: die Nato soll sich selbst finanzieren. Aber hätten wir uns nicht lieber mit Russland verbünden sollen, solange die Tür noch offenstand? Im Grunde haben uns die Amerikaner den ganzen Schlamassel eingebrockt. Es war Obama, der Russland verächtlich als eine »Regionalmacht« bezeichnete. Es war Bush, der den Nahen Osten mit einem stümperhaft geführten Krieg destabilisierte. Letzten Endes gehen die schrecklichen Sicherheitsbestimmungen auf den Flughäfen und der Terror in Brüssel, Paris und Berlin auf seinen “War on Terror” zurück. Und selbst die Flüchtlingswellen aus Afghanistan und Syrien haben ursächlich mit der amerikanischen Kriegführung zu tun. Umso perfider ist Trumps Kritik an der Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung.
Haben Literatur und Kunst die Verpflichtung, sich politisch einzumischen?
Ich gebe offen zu, dass ich immer gegen das Prinzip der Einmischung war. Wir haben gelesen, was die Intellektuellen während des Kalten Krieges und in den Jahren danach von sich gegeben haben. Gewisse Helden der literarischen Bundesrepublik, die immer sehr wortstark waren – ohne Namen zu nennen –, das erschien mir zu präpotent. Warum sollten Schriftsteller die besseren Karten haben als die Diplomaten und die Öffentlichkeit? Sie hatten vielleicht die besseren Worte. Aber was haben sie damit bewirkt? Meine Helden waren eher die Schweigsamen, die sich der öffentlichen Stimme enthielten.
Wer zum Beispiel?
Ein Dichter wie Samuel Beckett hat mich im Grunde mehr geprägt, auch in der politischen Haltung, als irgendein Wortführer, der sich einer Doktrin verpflichtet fühlte. Oder Franz Kafka mit seinem Satz, den ich mir wie ein Mantra wiederhole: „Es gilt aber herauszutreten aus der Totschlägerreihe …“. Ich mochte nie die Rolle des Präzeptors, der den anderen die Welt erklärt. Es gibt einen Unterschied von Geschichte und Politik. Die Schriftsteller eines Landes sollten sich um die Geschichte kümmern, darin liegt ihre Stärke. Ich glaube tatsächlich, dass die Ethik des Künstlers im Kunstwerk selber liegt. Die Kunstwerke, die Bücher sollten so beschaffen sein, dass sie den Leser und den Zuschauer in einen inneren Dialog verstricken, der auf moralische Überlegungen hinausläuft. Man hat ein Leben lang genug damit zu tun, ein guter Mensch zu werden, das ist die persönlichste Politik. Politagitatorische Kunst lehne ich ab. Da wird es dann sehr schnell sehr platt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Gewisse Gedichte von Gottfried Benn gehen tiefer zu Herzen als Gedichte von Bertolt Brecht. Aber auch Benn hat sich einmal eingemischt und ist prompt gescheitert. Er hat den Nationalsozialismus 1933 als Erneuerungsbewegung gefeiert. Völlig blind – er hat sich nicht vorstellen können, dass er schon wenig später als der Dichter, der er war, ein Vertreter „entarteter Kunst“, Berufsverbot bekommen würde. Nun sehe ich aber ein, dass eine Lage entstanden war, genau in diesen verfluchten dreißiger Jahren, wo einer wie Brecht tatsächlich mit der Waffe des Gedichts, Entscheidendes gegen den Faschismus formuliert hat. Heiner Müller sagte einmal, dass es ein großes Glück für Brecht war, in Hitler einen Gegner gefunden zu haben. Das war natürlich boshaft. Aber es könnte heißen, dass der Künstler, um wirklich zur Hochform aufzulaufen, eine maximale Reibung braucht. Eine größere Reibung für einen wie Brecht als dieser Führer in den Abgrund war nicht denkbar. Aber er ist darüber zu einem politischen Dichter geworden – ein hoher Preis für einen, der semantisch immer auf der Flucht war: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“. Derselbe Mann, der von Villon und Rimbaud her startete, findet seine Position im Weltbürgerkrieg, die ihn zuletzt an Stalins Seite treibt. Man wird schöne Liebesgedichte bei ihm finden, aber das Politische nahm irgendwann überhand, und er ist da nicht mehr herausgekommen. Ich bleibe beim Beispiel Benn: Der hat bis ins hohe Alter eher sehr intime Gedichte geschrieben – über Blumen, über die Melancholie, die Vereinsamung, das Alter etc. Das sind ja alles ebenso triftige Gegenstände. Ich merke, ich habe eine gewisse Skepsis gegen das Plakative in den Künsten.
Hat die Politik Sie in Ihrem Leben – Sie wuchsen ja in Dresden, der ehemaligen DDR, auf – nun erneut eingeholt? Dort marschiert ja regelmäßig die rechtsextreme Organisation Pegida auf.
Es fing damit an, dass ich immer wieder gefragt wurde: Was ist da los in Sachsen, was wird da in Dresden gespielt? – Sie kommen doch von dort. Ich habe versucht, mich an frühe Szenen in meiner Kindheit und Jugend zu erinnern, meine Schulzeit, erste Erfahrungen in die Richtung und habe das dann erstmal aufgeschrieben. Schon das war nicht ungefährlich, denn in dem Moment begibt man sich auf eine Gratwanderung. Ich werde seither immer wieder zu Interviews gebeten. Dabei könnte ich wie Beckett sagen: “I have no views to inter”. Ich habe keine Ansichten zu beerdigen. Ich merke, dass das meine Kompetenz überfordert. Als Autor kann man immer nur Einzelgeschichten erzählen. Diese Geschichten enthalten wie nebenbei ihre Moral. In dem Moment, da man sich positioniert, gerät man in eine Ecke, in eins der politischen Lager. Und das mag ich nicht. Ich habe Angst vor dem Lagerdenken. Die Bilanz aus den Geschehnissen des zwanzigsten Jahrhunderts ist ja gerade, dass die linken wie die rechten Gewaltbewegungen sich gewissermaßen aufheben. Als bitteres Fazit nach Auschwitz und den Gulags konnte man mit all dem nur brechen. Der Faschismus war per se diskreditiert, aber der Stalinismus war auch nicht die Lösung. Und nur den habe ich schließlich am eigenen Leib erfahren.
Ich bin in der Zeit des Kalten Krieges aufgewachsen. Eines Tages leuchtete mir der Satz eines Dadaisten ein, Walter Mehring, der sagte: „Ich bin weder links noch rechts, ich bin vertikal.“ Genau das aber ist die Sehnsucht der Poesie: aufzusteigen, sich aus dem Dreck zu erheben, in andere Sphären zu fliegen. Damit man endlich den Überblick hat. Es ist die alte metaphysische Sehnsucht, über das Physische der Politik hinauszugelangen, über die tägliche Rauferei. Aber dann gibt es leider Situationen, wo die Zivilcourage gefragt ist, die unmittelbare Reaktion auf ein Unrecht. Das ist aber unabhängig davon, was man beruflich oder künstlerisch so treibt. Im Grunde kenne ich nur ein Ideal, für das zu sterben sich lohnt: die Freiheit. Unfreiheit macht mich, schon in der kleinsten Dosis, nervös. Aber die Rolle des Schriftstellers als Vorredner, Hauptredner, Tribünenredner oder allwissender Kommentator – die lehne ich ab. Die Stärke des Gedichts ist die Schwäche jedes Menschenlebens oder die Fragilität jedes einzelnen Lebens. Dies in irgendeiner Form auszudrücken, in welchem Genre auch immer, das ungefähr könnte der Hauptauftrag sein.
Schon mit seinem Debüt „Grauzone morgens“, das aus der untergehenden DDR berichtete, etablierte sich der 1962 in Dresden geborene Durs Grünbein als einer der renommiertesten Lyriker unserer Zeit. Es folgten u. a. die Gedichtzyklen „Vom Schnee oder Descartes in Deutschland“, „Strophen für übermorgen“, „Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond“ und „Zündkerzen“. 1995 wurde er mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Grünbein ist auch ein bedeutender Essayist und Übersetzer. Er lebt in Berlin und Rom.
„Aus der Traum (Kartei) – Aufsätze und Notate“ (Suhrkamp), 573 S.