Alina Bronsky porträtiert in ihrem Roman „Der Zopf meiner Großmutter“ eine ungewöhnliche Migranten-Familie und ihr weibliches Oberhaupt. Tragikomisch, grotesk, bewegend und voller Emotionen.
Buchkultur: Die Figur der Großmutter ist eine wiederkehrende in Ihren Romanen. Wo nehmen Sie Ihre Figuren her? Woher Ihre Geschichten? Inwiefern und inwieweit nehmen Sie auch Anleihen bei der eigenen Familiengeschichte? Mit Ihren eigenen Großmüttern hat diese hier aber wenig gemein, oder?
Bronsky: Ich habe das Gefühl, dass die Geschichten unabhängig von uns allen irgendwo in einer anderen Dimension existieren. Manchmal stoße ich auf eine und kann dann nicht anders, als sie aufzuschreiben, also aus der Welt der Ideen in die konkrete sprachliche Form zu überführen. Manchmal muss man sie auch gezielt und vorsichtig ausgraben, weil sie verschüttet sind. Es ist natürlich trotzdem unvermeidlich, dass die aufgeschriebenen Geschichten auch mit mir und meinen persönlichen Erlebnissen zu tun haben – ich kann mich ja nur der Bilder bedienen, die ich kenne, vom Erlebten oder vom Hörensagen. Manchmal sind auch Anleihen bei realen Menschen dabei. Ich versuche zwar vorsichtig zu sein, aber es kommt wohl doch durch.
Was hat die Protagonistin im Roman „Der Zopf meiner Großmutter“ so herrisch, so überbehütend werden lassen? Sind der Schmerz und die Angst hinter dem Panzer zu groß? Was für eine Frau ist sie? Was symbolisiert der Zopf der Großmutter, den sie sich zuletzt abschneidet? Hat sie aus ihrer Vergangenheit gelernt?
Für mich ist das Buch die Geschichte eines Verlusts. Aber es ist immer eine Falle, als Autor zu versuchen, seine eigenen Figuren über das Buch hinaus zu erklären. Wenn man mehr erläutert, als im Buch steht, dann stellt sich die berechtigte Frage: Warum hat man es nicht gleich so aufgeschrieben? Daher muss ich meinem eigenen Roman schon so weit vertrauen, dass ich ihm nicht hinterher interpretiere. Es ist dann ein gemeinsamer Spaß, die unterschiedlichen Leseeindrücke mit der eigenen Vorstellung zu vergleichen. Das mit dem Zopf, naja, es ist einfach eine Frisur. Ich habe schon etwas Spott einstecken müssen für die Szene, in der er abgeschnitten wird, weil das natürlich so symbolbeladen ist. Aber es ist nun mal so, manchmal lassen Frauen ihre langen Haare abschneiden, und das fällt mit bedeutenden Lebensereignissen zusammen.
Über eine, noch weitaus unnachgiebigere, selbstherrlichere, Großmutter schrieben Sie schon im Roman „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“. Was macht die Faszination solcher alten, nicht immer weisen, Frauen aus? Haben Sie selbst tatarische Vorfahren?
Tatarische Vorfahren habe ich nicht. Aber die Faszination ist ungebrochen, ich kann sie gar nicht begründen. Vielleicht ist es der Widerspruch zwischen der Erwartung, ein ganz alter Mensch muss eben extrem weise sein, und dann der Realität, dass wir eben auch bis ans Lebensende Kinder bleiben können.
Der Begriff der Familie (auch der Geschwisterbegriff) spielt eine wichtige Rolle nicht nur im aktuellen Roman. Wir leben heute die unterschiedlichsten Formen von Familie. Was ist Familie? Was bedeutet Ihnen Familie? Und wie kann eine Patchwork-Familie funktionieren?
Familie ist für mich existenziell. Familie ist auch in unserer freier gewordenen Gesellschaft zunehmend selbstdefiniert. Es gibt die Tendenz dazu, die Herkunft und die leibliche Verwandtschaft als weniger bedeutend als die erworbenen Beziehungen, etwa Freundschaften, wahrzunehmen. Aber ich denke, das ist trügerisch. Eine Patchwork-Familie funktioniert vermutlich nach ähnlichen Gesetzen wie eine rein leibliche, nur dass es dort noch mehr Respekt und Dankbarkeit braucht, weil die Dinge weniger selbstverständlich sind und weil ein Teil der gemeinsamen Vergangenheit fehlt.
Die Großmutter im Buch emigriert mit ihrer Familie aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland und wohnt dort (zunächst) im Flüchtlingsheim. Sie kamen Anfang der Neunziger mit Ihrer Familie nach Deutschland. Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung? War es schwierig, in Deutschland Fuß zu fassen? Wo fühlen Sie sich heute verwurzelt?
Wir waren keine Kontingentflüchtlinge, wir hatten nicht einmal eine Auswanderung geplant – es hat sich erst nach und nach ergeben, dass wir in Deutschland bleiben werden. Mein Vater kam als Wissenschaftler nach Deutschland und nahm die Familie mit. Ehrlich gesagt erinnere ich mich bewusst an kaum noch etwas. Schwierig war es nicht, eher spannend: Ich war sehr ambitioniert darin, aus der hilflosen Ausländerrolle herauszukommen. Die Frage nach der Verwurzelung macht mich allerdings bis heute ratlos, vielleicht ist das die Folge davon.
Gab es anfangs die Überlegung, auf Russisch zu schreiben? Was verbindet Sie heute noch mit Ihrem Geburtsland? Was bedeutet „Heimat“ für Sie? Ein Begriff, der heute leider wieder gern von rechten Parteien vereinnahmt wird. Ihre Familie hat jüdische Wurzeln. Ist das etwas, das auch Ihr Leben bestimmt?
Als Kind habe ich kleine Geschichten auf Russisch geschrieben, aber als mein Umfeld wechselte, kam es mir plötzlich seltsam vor. Ich wollte ja dann doch gern Leser aus meiner Umgebung haben. Meine Familie hat neben jüdischen auch diverse andere Wurzeln, und am Ende ist daraus keine nationale oder ethnische Identität entstanden, schon gar keine, die das Leben bestimmt. Ich bin immer etwas neidisch, wenn Menschen so etwas haben, eine Heimat, eine religiöse oder andere Tradition.
Wie erleben und erlebten Sie die Migration seit 2015 und den Umgang damit? Viele meinen, dass der Aufstieg der Rechten in Europa eine Folge des Flüchtlingszuzugs sei, dass der Aufstieg der AfD eine Folge von Angela Merkels Einwanderungspolitik sei. Was sagen Sie zu alldem? Macht Ihnen der Aufstieg der Rechten in Europa und weltweit Angst? Angela Merkel ist als Parteivorsitzende zurückgetreten. Was wird in zwei Jahren sein, wenn es wieder Wahlen gibt?
Ich kann nicht für Europa sprechen, aber Deutschland wird ja offensichtlich gewaltig durchgeschüttelt, die früheren Positionen werden ins Wanken gebracht, die Konfrontation ist aggressiver geworden. Ich will aber drauf vertrauen, dass die zentralen Werte, die unsere demokratische Zivilgesellschaft ausmachen, die Turbulenzen überstehen.
Ihre Romane sind herrlich politisch unkorrekt, böse, witzig und voller Ironie. Wir leben in einer Zeit der politischen Korrektheit. Sprache wird zensuriert und kontrolliert, alte Kinderbücher werden umgeschrieben. Wie geht es Ihnen damit? Wo bleibt da die Freiheit des Wortes, die Freiheit des Denkens? Bleibt da der Humor nicht auf der Strecke?
Ich sehe die Gefahr durchaus. Manche Auswüchse der politischen Korrektheit sind ja ein rein akademisches Phänomen, das im Alltag die wenigsten Menschen interessiert, auch nicht die Lesenden. Auf der anderen Seite ist es leicht geworden, als inkorrekt zu gelten. Schon kleine Provokationen werden als bedeutend, andererseits auch als befreiend empfunden. Ich erlebe immer wieder, gerade bei Lesungen, dass die sogenannten bösen Stellen in meinen Büchern besonders freudig aufgenommen werden, auch wenn ich selbst beim Schreiben manchmal Skrupel habe, ob man so etwas wirklich sagen darf. Aber die Menschen sind ja nicht doof, sie können zwischen Schein und Sein unterscheiden.
Wie wichtig sind Ihnen Humor und Ironie? Kann man der Tragik des Lebens, kann man dem Tod nur mit Ironie und Humor begegnen? Kann der Witz auch eine Waffe sein?
Es ist toll, zum Lachen gebracht zu werden, gerade bei Themen, die angstbeladen sind. Ich habe mal irgendwo gelesen, das Gegenteil von Leben ist nicht der Tod, sondern die Angst. Und Witz ist per se angstlösend, daher ist es eher Medizin als Waffe.
In Ihren Romanen, auch im aktuellen, werden immer wieder Vergänglichkeit und Tod als etwas Lebensbegleitendes thematisiert. Vor einigen Jahren verunglückte ihr erster Mann. Sie haben darüber indirekt im Roman „Nenn mich einfach Superheld“ geschrieben. Sterben, Altern und Tod sind in unserer Kultur Tabus und werden gern ausgespart. Ist Trauern nicht mehr gesellschaftsfähig? Im Buch ist es Ferdi, der vielleicht besser mit dem Tod seines Vaters umgeht als die Großen. Gehen Kinder anders, besser mit Trauer und Tod um als wir Erwachsenen?
Das weiß ich alles leider nicht. Die individuellen Erfahrungen lassen sich nicht verallgemeinern. Es gibt Momente im Leben, da muss jeder allein durch, und daran ist niemand schuld: So ist es nun mal.
Baba Dunja, auch eine Großmutter, ist eine Ihrer beeindruckendsten Protagonistinnen. Sie setzt sich bewusst der eigenen Sterblichkeit in der „Todeszone“ aus. Weshalb tut sie das? Woher nimmt sie ihre Abgeklärtheit, woher ihre Stärke?
Sie weiß ja sowieso, dass sie am Ende ihres Lebens angekommen ist. Da ist gar kein philosophisches Konzept dahinter, es ist eher einfach: Wenn man dem Unvermeidlichen ins Gesicht schaut, kann man es wenigstens so gestalten, wie es einem gefällt.
Auf der anderen Seite tut der Mensch heute alles, um nicht zu sterben und ewig jung zu bleiben. Von Klonen bis Biogenetik, von künstlicher Intelligenz bis zu Transfusionen mit jungem Blut wird alles versucht, um endlos zu leben. Frédéric Beigbeder hat darüber ein Buch geschrieben. Wie sehen Sie diesen Jugendwahn?
Ich finde es allzu verständlich. Dass die Schönheit der Jugend besonders geschätzt wird, ist ja nichts Neues, das war schon immer so, bloß galt man damals schon mit Mitte Zwanzig als alt. Wir haben eher was geschenkt bekommen: Die durchschnittliche Lebenserwartung verlängert sich, Jugendliche werden erst einige Jahre später erwachsen, viele Menschen sehen mindestens zehn Jahre jünger aus als Gleichaltrige vor fünfzig Jahren.
Die Geister der Verstorbenen erscheinen Baba Dunja, sie sprechen mit ihr und haben nichts Erschreckendes an sich. Glauben Sie an so etwas wie ein Leben nach dem Tod, an eine Verbundenheit über den Tod hinaus?
Ja, auf jeden Fall.
Es sind die Jungen und die Alten, aus deren Perspektive Sie schreiben. Was ist es, was beide Generationen auszeichnet? Sind die Jungen wie die Alten so etwas wie Außenseiter in unserer Gesellschaft?
Ich wähle es nicht bewusst. Vielleicht ist es besonders faszinierend, weil die Jungen ganz am Anfang stehen, die Alten am Ende. Dazwischen ist natürlich auch viel los, vielleicht komme ich irgendwann auch dazu.
Wenn ich an Baba Dunja denke: Welche Vorteile bringt das Alter, der Lebensabend mit sich – gerade für Frauen? Bringt das Alter neue Freiheiten mit sich? Welche? Wie würden Sie gerne im Alter sein?
Ich würde schon gern so entspannt und mutig wie Baba Dunja sein. Das Befreiende am Alter könnte das Gefühl sein, dass man niemandem mehr etwas schuldet, die Fürsorgepflichten sind erfüllt, die allgemeinen Schönheitsmaßstäbe lockern sich. Aber vielleicht ist es auch die Illusion eines selbstbestimmten Lebensabends, den nur wenige Menschen erreichen können. Und am glücklichsten bleibt man sowieso dann, wenn man weiter aktiv und wirksam sein kann, insbesondere sich auch um andere kümmert.
Wie erklären Sie sich die teils heftigen Reaktionen auf Ihr Buch „Die Abschaffung der Mutter“? Frauen stehen heute mehr unter Druck als je zuvor. Früher galt man als Rabenmutter, wenn man rasch in den Beruf zurückkehrte. Heute ist es beinahe umgekehrt: Wollen Frauen länger zuhause bei ihren Kindern bleiben, werden sie als reaktionäre Glucken verunglimpft. Angebliche, meist männliche, Experten sprechen Frauen ihre Kompetenz als Mütter ab. „Die Grünen“ plädieren dafür, dass Frauen möglichst schnell wieder ins Berufsleben zurückkehren. Arbeitet man da nicht (unfreiwillig) einem neoliberalen Gesellschaftsmodell, den Interessen der Wirtschaft und einer Leistungsgesellschaft in die Hände? Geht das alles nicht auf Kosten der Kinder? Wie kann man Frauen stärken, im Wortsinn wieder mehr auf ihr Bauchgefühl zu hören? Sie sagten einmal, sich Hausfrau zu nennen, habe heute schon etwas Revolutionäres an sich. Was meinten Sie damit?
Das mit der Hausfrau war eine kleine Provokation, die voll aufgegangen ist. Heute würde ich das wahrscheinlich so nicht mehr sagen, so spannend ist es auch wieder nicht, als was ich mich sehe oder beschreibe. Die heftigen Reaktionen auf das Buch waren nicht überraschend – es war ja gezielt als eine Polemik angelegt, die Widerspruch hervorruft. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass es als allgemein gesellschaftliches Thema viel weniger relevant ist, als ich gedacht und auch gehofft hatte. Die Familien richten sich irgendwie ein, und es bleibt letztendlich privat. Das Bauchgefühl, das Sie erwähnen, muss man sich auch erstmal leisten können. Dass die Kindererziehung als eine Nebensächlichkeit abgetan wird, die gern delegiert werden kann und soll, ist schon skandalös.
Sie schreiben unter Pseudonym. Weshalb? Was bedeutet der Name „Bronsky“?
Das Pseudonym hat mir schon seit über zehn Jahren einen guten Dienst erwiesen, die Bücher existieren relativ unabhängig von meiner Person. Bronsky ist einfach ein aufgeschnappter Emigrantenname, den ich passend fand.
Vielerorts wird beklagt, dass Kinder und Jugendliche – auch aufgrund der Flut an neuen Medien – kaum noch Bücher lesen. Wie bringt man Kinder, Jugendliche heute noch zum Lesen?
Indem man ihnen die Smartphones wegnimmt ;-). Aber ich glaube nicht an die Weltuntergangsszenarien der Buchbranche. Die Lesenden waren schon immer in der Minderheit. Und die Autoren müssen sich heute vielleicht mehr anstrengen, Geschichten zu schreiben, die mit den Medien konkurrieren können. Ein aus Buchstaben bestehender Text ist nach der mündlichen Überlieferung die schlichteste, direkteste und zugleich proaktivste Art, eine Geschichte zu erleben, ich glaube daher fest daran, dass sie Zukunft hat.
Sie haben vier Kinder. Wann finden Sie da Zeit zum Schreiben?
Ich schreibe nicht die ganze Zeit, sondern phasenweise. Wenn ich mich mit etwas Spannendem beschäftige, dann finde ich schon die Zeit dafür, das geht notfalls auch in jeder freien Minute, während andere Dinge liegen bleiben. Wenn mir aber eine gute Geschichte fehlt, dann bringen auch die Freiräume nichts – dann schreibe ich gar nicht.
Was können wir von unseren Kindern lernen?
Alles, was sie besser können.
Was genau ist das?
Das ist keine einfache Frage, sie haben in meinen Augen keinen grundsätzlichen Kompetenzvorschuss. Sobald sie auf irgendeinem Gebiet klüger werden als man selbst, ob es der perfekte Lidstrich ist, Umgang mit Kleinkindern oder eine Fremdsprache, kann man bei ihnen lernen. Ansonsten sehe ich die Richtung der Wissensübertragung schon traditionell von alt nach jung.
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Die 1978 in Swerdlowsk, heute Jekaterinburg, geborene Alina Bronsky lebt seit Anfang der Neunziger in Deutschland. Sie studierte Medizin und arbeitete als Werbetexterin und Journalistin, ehe sie ihren Debütroman „Scherbenpark“ veröffentlichte, der Schullektüre ist. Es folgten u. a. „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“, „Nenn mich einfach Superheld“, „Baba Dunjas letzte Liebe“ sowie die Jugendbücher „Spiegelkind“ und „Spiegelriss“. Die vierfache Mutter lebt in Berlin.
„Der Zopf meiner Großmutter“ (Kiepenheuer & Witsch), 224 S.
„Baba Dunjas letzte Liebe“ (Kiepenheuer & Witsch), 160 S.
Foto: Julia Zimmermann