In Ling Mas 2018 erschienen Roman »Severance« (Dt. New York Ghost, übersetzt von Zoë Beck, CulturBooks) führt eine weltweite Pandemie dazu, dass es in New York fast keine Menschen mehr gibt. Nur ein paar Zombies und die Protagonistin, die allein im 40. Stock eines Büroturms sitzt und beim Blick auf die 5th Avenue ein einzelnes Pferd sieht. Seitdem ich diese Szene gelesen habe, wurde aus meinem diffusen Wunsch, eines Tages mal den Big Apple zu sehen, ein konkretes Ziel. Ich wollte endlich selbst vor Ort sein.
Wir alle haben unser ganz eigenes Bild von New York im Kopf. Die Glasfassaden der Skyline, hinter denen wir seit Bret Easton Ellis’ »American Psycho« die tiefsten Abgründe erwarten, die ultraorthodoxe jüdische Gemeinde in Williamsburg, die seit Deborah Feldmans »Unorthodox« nicht mehr so geheimnisvoll wirkt oder die funkelnden Upper East Side-Probleme aus »Sex and the City«. Die Metropole war und ist immer auch die Kulisse für Literatur und Film. Und jedes Jahr erweitert sich der Kanon um bemerkenswerte neue Geschichten. In jüngster Zeit zum Beispiel der grandiose Fantasy Roman »The City We Became« (dt. »Die Wächterinnen von New York«) von N.K. Jemisin (siehe Buchkultur Ausgabe 201) oder die bedrückende New Economy Dystopie »Mercury Retrograde« (dt. »Rückläufiger Merkur«) von Emily Segal. In der Stadt am Hudson gibt es keinen Stillstand, weder in der Literatur noch auf der Straße.
Die Stadt besuchen, bedeutet also immer ein durch Filme und Bücher erzeugtes Bild mit der Realität abzugleichen. Wie ist diese Stadt jetzt nach Trump, in einer verhältnismäßig ruhigen Phase der Pandemie? Im Sommer 2022 bin ich auf meine ganz subjektiven Streifzüge durch die Stadt und ihre Geschichten gegangen.
Streifzüge durch wiederbelebte Straßen
Auf der 5th Avenue gibt es nach dem harten Lockdown 2021 wieder sehr viele Menschen. Aber die Literaturszene hat sich durch Corona trotzdem verändert, berichtet mir die Literaturagentin Marion Duvert von der Clegg Agency. Viele Verlage und Agenturen haben ihre Büros verkleinert, weil das Konzept Homeoffice in den USA viel beliebter ist als in Europa. Man erspart sich die tägliche Rush Hour und die teuren Mieten in Manhattan, indem man remote von außerhalb arbeitet. Das hat Einfluss auf das literarische Leben der Stadt. Kommunikation wird zweckorientierter, wenn sie via Zoom stattfindet, anstatt beim Lunch oder bei abendlichen Veranstaltungen. Was da wirklich verloren geht, lässt sich wahrscheinlich erst in einigen Jahren sagen.
Auch viele kleine Buchhandlungen hätten die Pandemie nicht überlebt, berichtet mir die seit 20 Jahren in New York lebende deutsche Journalistin Eva Schweitzer. »Manhattan war wie ausgestorben. Es gab über Monate einfach keine Kundschaft.« Zwangsläufig kommen mir bei diesen Worten wieder Bilder aus Ling Mas Zombie-Roman in den Kopf.
Zum Glück gibt es doch noch ein paar der kleinen, interessanten Buchhandlungen jenseits von »Strand« und »Barnes & Noble«. Eine Entdeckung war für mich die »Book Club Bar« im East Village. Halb Bar, halb Buchhandlung wird hier in Wohnzimmeratmosphäre guter Wein zum Indiebook serviert. Am liebsten wäre ich direkt eingezogen, denn der Raum erzeugt den unmittelbaren Wunsch, sich in einen der Sessel zu setzen, sich ein Getränk zu bestellen und einfach stundenlang zu lesen. Ganz im Kontrast zu der hektischen Welt vor der Tür.
Auch die in Brooklyn liegende Buchhandlung »Books Are Magic« hat die Pandemie zum Glück überlebt. 2017 gegründet von der Autorin Emma Straub, finde ich hier genau die Art Buchhandel, die ich in bestimmten Läden in Europa – wie dem »Phil« in Wien oder dem »ocelot« in Berlin – so schätze: keine 18 Miles of Books wie der Werbeslogan von »Strand«, sondern eine gut kuratierte Auswahl bibliophiler Perlen, ausgewählt von den Menschen, die dort jeden Tag arbeiten.
Geradezu überwältigt war ich von meinem ersten Besuch bei »McNally Jackson«, einer kleinen unabhängigen Buchhandelskette, die es nur in New York gibt. Noch nie zuvor habe ich so ein großes Lyrikregal in einer Buchhandlung gesehen. Besonders die Filiale in der Fulton Street kann ich wegen des integrierten Cafés empfehlen.
Wo Underground-Bewegungen ihren Ausgang nehmen
Doch egal ob klein oder groß, unabhängig oder große Kette, in ALLEN Buchhandlungen gab es im Juni 2022 direkt im Eingangsbereich einen großen Tisch mit LGBTQ+ Literatur. Kinderbücher, Sachbücher, ja sogar T-Shirts mit Büchern in Regenbogen-Optik waren prominent platziert. In den präsentierten Büchern werden sexuelle Identität und diverse Formen des Zusammenlebens in allen Farben beschrieben. Diese Präsenz erklärt sich durch den Pride Month, der mittlerweile auch als umsatzförderndes Marketinginstrument erkannt wurde. Ich freue mich über diese Sichtbarkeit und über den Fortschritt gegenüber der starken Marginalisierung und Diskriminierung von nicht-heterosexuellen Menschen beispielsweise zur Zeit der Stonewall-Proteste 1969.
Was ich hier sehr spannend finde, ist die Verbindung zwischen queerer Literatur und New York. Man kann die kreative Energie, die in der bildenden Kunst, der Musik oder der Literatur von diesem Ort ausgeht, nicht ohne den Kampf auf sexuelle und körperliche Selbstbestimmung lesen.
Und so wird eine Geschichte New Yorks dann besonders interessant, wenn man sie von den Rändern aus betrachtet. Nicht von den Glasfassaden und der funkelnden Skyline, sondern von den Nebenstraßen, dem Untergrund und der Subkultur. Seit Jahrzehnten gilt NYC als eine Metropole der Underground-Kunst und der queeren Protest-Bewegung. Hierher kamen schon immer Menschen, die anders leben wollten und eine Freiheit suchten, die es schon auf der anderen Seite des Hudson, in New Jersey, nicht mehr gab. So nähere ich mich auch der Stadt. Ich lese »Just Kids«, Patti Smiths Erinnerungen an ihre Zeit mit Robert Mapplethorpe und bin erschüttert über deren Armut Ende der 60er Jahre. Sie bewohnten zu zweit ein winziges Zimmer im Chelsea Hotel, dem Epizentrum der New Yorker Subkultur, hatten kaum Geld für Essen aber den unbedingten Wunsch Kunst zu schaffen. Smiths Lyrik und Mapplethorpes explizit-schwule Fotografien sind heute ikonisch. Aber sie wuchsen aus dem Untergrund.
Vom Chelsea Hotel lese ich mich weiter zu Eileen Myles, die in ihrem Buch »Chelsea Girls« zeigt, wie sie zur Dichterin wird und sich von heteronormativen Beziehungskonzepten emanzipierte. Ich sehe die Verbindungslinien, natürlich zu Andy Warhol und den Versuchen, Kunst und Leben auf eine völlig neue und radikale Art zu verbinden. Ich schaue mir die Bilder von Peter Hujar an, den jede/r kennt, seitdem seine Fotos auf Buchcovern, zum Beispiel auf Hanya Yanagiharas »A Little Life« oder der deutschen Ausgabe von Julia May Jonas »Vladimir«, zu sehen sind. Von Hujar ist es dann nur ein kleiner Schritt zu David Wojnarowicz. Aus mir völlig unverständlichen Gründen ist der langjährige Lebenspartner von Hujar im deutschen Sprachraum nahezu unbekannt. Dabei gilt der Schriftsteller und Künstler, der sich als Kind auf dem Straßenstrich am Times Square Geld für Essen verdiente, als einer der wichtigsten Aktivisten gegen die in New York besonders heftig grassierende AIDS Epidemie. Eine Krankheit, durch die aufgrund politischer Ignoranz allein in New York mehr als 100.000 Menschen den Tod fanden. Wojnarowicz’ Todestag jährt sich in diesem Sommer zum 30. Mal. Er starb viel zu jung, genau wie Hujar und viele andere, an dem HI-Virus. (Weiterführend kann ich zu David Wojnarowicz den sehr lesenswerten Essay History Keeps Me Awake At Night – Leben, Tod und Afterlife von David Wojnarowicz von Isabella Caldart auf 54books empfehlen. Ich hatte das große Glück mit der New York-Kennerin einen Nachmittag im East Village zu verbringen.)
Seit Anfang der 90er-Jahre hat sich viel geändert in der Stadt, auch die Wahrnehmung der queeren Kultur. Sie fühlt sich in New York nicht mehr wie Subkultur an. Durch Serien wie »Pose« oder »Fire Island« sind die oft bitteren Kämpfe nach Selbstbestimmung und Anerkennung mainstreamfähig geworden. Heute lässt sich anders damit Geld verdienen als Anfang der 80er-Jahre auf dem Times Square. Die Pride-Parade ist zu einem riesigen Massenspektakel geworden, das ganz Manhattan in Regenbogenfarben taucht. Traurig nur, dass dort nun wieder für das Recht auf Abtreibung demonstriert werden muss.
See you, Big Apple!
Doch zurück zur Literatur. Augenöffnend für mein Verständnis der Stadt war der Essay »The Lonely City« von Olivia Laing. Darin untersucht die britische Journalistin den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Marginalisierung, dem damit einhergehenden Gefühl der Einsamkeit und dessen Transformation in Kunst. Eine Konstellation, die, wie es Laing zeigt, besonders in der queeren Subkultur New Yorks, von Klaus Nomi bis Valerie Solanas sehr häufig vorkam.
Obwohl die Corona-Zahlen auch in New York wieder steigen, gibt es viele Lesungen in der Stadt. Ich konnte den von mir sehr verehrten Scott McClanahan live erleben und Eileen Myles zuhören, wie sie ihre Gedichte liest. Besonders beeindruckt haben mich die Lesungen von Diana Goetsch aus »This Body I Wore« und Jeanne Thorntons »Summer Fun«, die über aktuelle Lebensrealitäten von Transmenschen schreiben. »Wir stehen auf den Schultern von Riesen« sagt Goetsch während der Lesung und verweist damit auf die Erfolge der queeren Protestkultur in den letzten Jahrzehnten. New York war dafür immer ein Zentrum. Heute erscheinen Bücher, wie der New York Roman »Detransition, Baby« der non-binären Torrey Peters in großen Verlagen und interessieren eine breite Öffentlichkeit, auch jenseits der LGQBTI+ Community. Der Literaturbetrieb scheint also auch bei diesem Thema immer mehr aufzuwachen.
In Ling Mas Roman verlässt die Protagonistin am Ende voller Wehmut die Stadt. Mir geht es auch so, natürlich. Aber ich will wiederkommen, denn es gibt noch so viel mehr zu lesen hier. Bis dahin wächst mein inneres New York weiter.
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Erwähnte Literatur:
Ling Ma
New York Ghost
Ü: Zoë Beck
CulturBooks, 2021
Bret Easton Ellis
American Psycho
Ü: Clara Drechsler, Harald Hellmann
Kiepenheuer & Witsch, 2006
Deborah Feldman
Unorthodox
Ü: Christian Ruzicska
Secession, btb, 2019
N.K. Jemisin
Die Wächterinnen von New York
Ü: Benjamin Mildner
Tropen, 2022
Emily Segal
Rückläufiger Merkur
Ü: Cornelia Rösler
Matthes & Seitz, 2022
Patti Smith
Just Kids
Ü: Clara Drechsler, Harald Hellmann
Kiepenheuer & Witsch, 2010
Eileen Myles
Chelsea Girls
Ü: Dieter Fuchs
Matthes & Seitz, 2020
Hanya Yanagihara
Ein wenig Leben
Ü: Stephan Kleiner
Hanser Berlin, 2017
Julia May Jonas
Vladimir
Ü: Eva Bonné
Blessing, 2022
David Wojnarowicz
Close to the knives. A Memoir of Disintegration
Vintage, 1991 (Deutsch von Stefan Ernsting, Mox & Maritz 2005, zur Zeit vergriffen)
Olivia Laing
The Lonely City. Adventures in the Art of Being Alone.
Picador, 2016 (Deutsch von Thomas Mohr, btb 2023)
Scott McClanahan
Crapalachia
Ü: Clemens J. Setz
ars vivendi, 2021
Diane Goetsch
This Body I Wore. A Memoir
Farrar, Straus and Giroux, 2022 (Noch keine Übersetzung ins Deutsche angekündigt)
Jeanne Thornton
Summer Fun
Soho Press, 2021 (Noch keine Übersetzung ins Deutsche angekündigt)
Torrey Peters
Detransition, Baby
Ü: Frank Sievers, Nicole Seifert
Ullstein, 2022
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Links:
Isabella Caldart über David Wojnarowicz
Book Club Bar
197 East 3rd Street
New York, NY 10009
Books Are Magic: 225 Smith Street
Brooklyn, NY 11231
on the corner of Smith and Butler
McNally Jackson Independent Booksellers
mehrere Standorte, u. a.: NOLITA, 52 Prince Street