Ein Journal des Traums in einer Metropole.


Sie ist Bibliothekarin, er ist Anwalt, beide haben jüdisch-ukrainische Wurzeln, leben schon lang in New York und schon lang zusammen. Vielleicht ist der Moment der Entzweiung, des Gefühls, nicht mehr wirklich gesehen und noch weniger verstanden zu werden, jener, in dem sie im Kleiderschrank ihres Mannes nicht einfach Anzüge und Hemden, sondern eine Ansammlung einander hassender Rivalen zu bemerken meint? Sie macht sich auf, um durch die Straßen von Manhattan zu streifen – und sie trifft auf alle Männer, die es gibt: den Räuber, den Mörder, den Soldaten, den Astronauten, den Dichter, den Arzt, einen Löwenbändiger, einen Bäcker, einen Kerzenzieher, einen Schlachter – und in der einzigen Frau, einer Obdachlosen, alle Frauen, die es gibt. Sie ist niemals bedroht, sie bekommt sehr unterschiedliche Geschenke – einen Ehering, einen Zettel mit einem Satz, eine traurige Wahrheit, einen Traum aus der Vergangenheit.

Weil sie selbst alle ist, die es gibt, weil der Schlüsselsatz dieses vorgeblichen Journals aus Beobachtungen des Tages – und nichts könnte weniger »alltäglich« sein – lautet: »Vertreibung gehört zu ihrem Erbe.« Wie ein in Kapitel verortetes Erzählgedicht bietet die Autorin diesen eindringlichen Text an – und wie Schlafwandler/innen folgt man ihr unter Feuerleitern, durch Regenlacken, in obskure Bars, auf die Muster von Gullydeckeln, in das Erinnern, Suchen, Träumen von einer, die immer noch den Staub der zerstörten Twin Towers schmeckt auf ihrer Tour, die einsam bleibt, wie viele sie auch trifft, bevor sie beim Heimkommen gefragt wird, wo sie gewesen sei.

Jennifer Clement
Auf der Zunge
Ü: Nicolai von Schweder-Schreiner
Suhrkamp, 143 S.