Das Literaricum in Lech-Zürs am Arlberg vom 13. bis 16.07.2023.
Fotos: © Lech Zürs Tourismus by Dietmar Hurnaus, Bearbeitung: GM/Buchkultur
Gemäß der Konzeption des allsommerlichen Literaricums in Lech am Arlberg ist diese Frage schnell beantwortet: Seit drei Jahren wird im Hotel Sonnenburg in Oberlech ein Werk der Weltliteratur in den Mittelpunkt von Lesungen, Diskussionen und Vorträgen gestellt, in möglichst vielen Facetten beleuchtet und auf seinen Konnex zur Gegenwart abgeklopft.
Nach dem Schelmenroman Simplicius Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen im Jahr 2021 und Herman Melvilles Erzählung »Bartleby, der Schreiber« 2022, fiel die Wahl 2023 auf »Stolz und Vorurteil« von Jane Austen. Es wäre aber ein Zirkelschluss, daraus eine abschließende Einordnung ihres Werks abzuleiten. Weil es Weltliteratur ist, wird es in Lech besprochen, und weil es in Lech besprochen wird, ist es Weltliteratur. So geht’s natürlich nicht! Die Kuratorin und Moderatorin des Literaricums, Nicola Steiner, ergriff das Dilemma in ihren Antrittsworten auch gleich bei den Hörnern und erzählte von einem Teilnehmer, der während der zufällig gemeinsamen Bahnfahrt Zweifel an der Welthaltigkeit von Austens Romanen geäußert haben soll. Damit war die Richtung der dreitätigen Veranstaltung im Juli schon umrissen: Es geht ans Eingemachte und nicht ums vorher Ausgemachte! Spannend statt ermüdend ist der Anspruch, der sich weniger an akademischen Kategorisierungen denn an aktuellen Fragen abarbeitet. So war 2021 der E-Bestsellerautor Daniel Kehlmann der erste Eröffnungsredner, 2022 die U-Bestsellerautorin Elke Heidenreich und 2023 schließlich der aus Funk und Film bekannte Literaturkritiker Denis Scheck. Und auch er packte das Dilemma bei den Hörnern, indem er sich als glühender Austen-Fan outete und zugleich den von ihm auch verehrten Mark Twain mit den Worten zitierte, jede Bibliothek erfahre durch den Verzicht auf Werke von Jane Austen eine Aufwertung. Denis Scheck hingegen zeigte, wie hinter dem simplen Allerweltsplot – aus Stolz und Vorurteil wird nach einigen Verwirrungen Liebe – eine nonkonformistische Gesellschaftskritik steht. Zum einen lese sich der Beginn wie ein »Immoporno«, zum anderen frage sich die Protagonistin Elizabeth Bennet »Worin besteht denn beim Heiraten der Unterschied zwischen Käuflichkeit und Klugheit? Wo endet Besonnenheit und wo beginnt Habsucht?« Auch mit der Christlichkeit, die in ihrer Grabinschrift gepriesen wird, ist es in ihren Romanen nicht so weit her. Gott und Gebete kommen schlicht nicht vor, ja Denis Scheck sieht in der Handlung von »Stolz und Vorurteil« eine regelrechte Denunziation des Berufstands der Geistlichkeit, dem ihr Vater und einige ihrer Brüder angehörten.
Am Folgetag tauchten der Verleger Horst Lauinger (Manesse) und die Übersetzerin Andrea Ott in die Tiefenstruktur von Jane Austens Text ein. Bereits am Vormittag war vom Schauspieler Thomas Sarbacher eine gekürzte Version von »Stolz und Vorurteil« vorgetragen worden, die auch den unvorbereiteten Besucher/innen einen guten Einstieg gewährleistete. Ergänzend zu Denis Schecks Beschäftigung mit den Figuren, den Beziehungskonstellationen, gesellschaftskritischen Implikationen und der gestalterischen Kraft von Jane Austens Humor ging es anhand der Feinheiten des Übersetzens um nichts weniger als um die Feinheiten von Austens Schreibstil. Für das, was Andrea Ott lieber »Übertragung« nennt als »Übersetzung« bedarf es eines untrüglichen Gespürs für den Rhythmus von Austens Sprache und der Angemessenheit von Begriffen. Da kann aus »Design« schon mal »plumpe Übertreibung« werden, weil das Ursprungsvokabel im Deutschen kontextuell sinnlos bliebe.
Sprachliche Virtuosität gilt auch vielen als Merkmal des Schriftstellers Martin Mosebach, mit dem Michael Köhlmeier am Abend ein Werkstattgespräch führte. Seine Auszeichnung mit dem Georg Büchner Preis im Jahr 2007 hatte im Feuilleton für ähnlichen Aufruhr gesorgt wie die Vergabe des Nobelpreises an Peter Handke 2019. Wurde bei dem einen kritisiert, den Nobelpreis trotz seines Eintretens für Slobodan Milošević erhalten zu haben, so wurde dem anderen unterstellt, wegen seiner reaktionär-katholischen Gesinnung mit dem Büchner-Preis bedacht worden zu sein. Es ging so weit, dass sich damals einzelne berufen fühlten, Mosebachs Texte akribisch auf stilistische und orthographische Unsauberkeiten zu untersuchen. Beim Literaricum in Lech gelang es jedenfalls einem der Initiatoren, nämlich Michael Köhlmeier, die hohe Qualität Mosebach’scher Prosa durch versierte und wertschätzende Fragestellungen ins rechte Licht zu rücken. Wer seine Ästhetik an den Romanciers des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wie beispielsweise Joseph Roth geschult hat, wird die Reichhaltigkeit an Adjektiven in Mosebachs Werk nicht mit dem abwertenden Attribut »Adjektivismus« abtun, wenngleich eingestanden werden muss, dass sich natürlich auch die zeitgenössischen Kolportageromane an literarischen Werken orientierten und mit wenig stimmigen Eigenschaftszuschreibungen wucherten.
Weltliteratur oder Trivialkolportage? Diese grundsätzliche Frage entschied sich für die Verfasserin diese Berichts im Hinblick auf Martin Mosebach nach dem Gespräch unter Dichtern klar für die Welthaltigkeit und Eleganz seines Werkes.
Raoul Schrott, Miterfinder des Literaricums, erzählt am Samstagvormittag traditionell auf der Kriegeralm (Sessellift!) zum Thema passende Elemente aus der antiken literarisierten Mythologie, diesmal aus Hesiods Theogonie aus dem 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Passagen von Hesiod und aus dem Essay in Schrotts Neuübersetzung spickten gewissermaßen die freie Erzählung über den Ursprung der griechischen Musen aus der hethitischen Überlieferung und die lebendige Beschreibung seiner Recherchen vor Ort. Der Abend war der Ikone der Frauenemanzipationsbewegung Alice Schwarzer und ihrer 2022 erschienenen aktualisierten Biographie »Lebenslauf« und »Lebenswerk« gewidmet. Ihr lächelndes Bekenntnis »auf Krawall gebürstet« (gewesen?) zu sein, wurde von ihrer geduldigen Auseinandersetzung mit allen Fragen der Interviewerin Katja Gasser und des Publikums spannend konterkariert.
Den Abschluss bildete die Verleihung des mit 15.000 Euro dotierten Poeta Laureatus an den Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber und Verleger Michael Krüger am Sonntagvormittag im Hotel Kristiania. Er ist mit der Verpflichtung verbunden, monatlich ein Gedicht zur Weltlage zu verfassen, das dann in verschiedenen Rundfunkstationen und Zeitungen wie dem STANDARD veröffentlicht wird. Die ersten fünf können schon abgefragt werden und enthalten so gewichtige und doch luzide Wendungen wie:
»Man betete weiter zu Gott,
denn man wusste zu wenig von ihm, um ihn verleugnen
zu können.«
2024 soll die Reihe in einem neu erbauten Veranstaltungszentrum in Lech stattfinden und beim legeren gemeinschaftlichen Abendessen konnten die Anwesenden auch schon mal den Überlegungen für das Thema lauschen. Sie gehen in Richtung eines Theaterstückes, an dessen Welthaltigkeit kein Zweifel bestehen kann. Und es handelt sich nicht um Goethes »Faust«.