Barbara Kingsolvers großer, visionärer Roman über die Welt in Krisenzeiten: »Die Unbehausten« erschien schon 2018 (während Trumps erster Amtsperiode) im Original und verwebt auf kunstvolle Weise zwei Jahrhunderte und zwei Erzählebenen, Historisches und Fiktives miteinander. Foto: David Wood


Wie verhalten sich die Menschen, wenn alles, worauf sie sich bisher gestützt haben, auf Sand gebaut war? Wohin wenden sie sich, wenn es keine Sicherheiten mehr gibt? Das und vieles mehr besprachen wir mit der Pulitzer-Preisträgerin, die eine der unprätentiösesten und engagiertesten Autorinnen unserer Zeit ist. Das Interview über ihren Roman, historische Wendepunkte, Trump, Empathie, die Rolle der Literatur und Hoffnung.

Buchkultur: Was war der Hauptgedanke hinter Ihrem großartigen, visionären Roman?

Barbara Kingsolver: Ich wollte über den Paradigmenwechsel schreiben. Im Laufe der Geschichte gibt es immer wieder Momente fundamentalen Wandels, in denen unsere alten Annahmen über die Welt und die Lösung von Problemen nicht mehr zu der neuen Ordnung passen. Offensichtlich liegt es in unserer Natur, immer wieder auf die alten Lösungen zurückzugreifen, auch wenn sie längst nicht mehr funktionieren. Ein prominentes Beispiel: die »Pionier«-Vorstellung, die Ressourcen der Welt seien unendlich und von Gott zur Nutzung durch den Menschen geschaffen worden – der Glaube, dass es immer noch mehr Wälder zum Abholzen und noch mehr Fische im Meer geben wird. Es ist für die Menschen fast unmöglich, ihren moralischen Anspruch an endlosen Konsum zu ändern, sogar nachdem dieser ganz offensichtlich unhaltbar und problematisch geworden ist. Unzählige grundlegende Annahmen mussten im Lauf der Zeit angepasst werden: die Vorherrschaft der Männer, ethnische Vorherrschaft, die Vorstellung, dass ein Mensch einen anderen besitzt, und alle möglichen Vorstellungen darüber, wie Menschen mit anderen Arten in Verbindung stehen. Keimtheorie zum Beispiel! Ich wollte mir das etwas genauer ansehen: Wie wir uns an diese historischen Wendepunkte anpassen – oder eben nicht.

Ich liebe den Charakter der Mary Treat und finde sie als Figur im Roman wie auch im wirklichen Leben inspirierend und ermutigend. Wie sind Sie auf sie gestoßen? Was hat Sie an der historischen Figur der Mary Treat fasziniert?

Ich liebe sie auch. Als ich das Gerüst des Romans entwarf, wollte ich dem gegenwärtigen Paradigmenwechsel einen früheren gegenüberstellen, weil ich es interessant finde, bestimmte Universalien menschlichen Verhaltens über die Zeit hinweg zu untersuchen. Ich wollte zwei Sets von Charakteren in zwei verschiedenen Epochen erschaffen, die im selben (symbolisch zerfallenden) Haus leben. Ich habe das späte 19. Jahrhundert als meine frühere Zeitebene gewählt, weil sich in den USA damals gerade große Umwälzungen vollzogen. Wirtschaftliche, wissenschaftliche und spirituelle Werte erfuhren alle einen tiefgreifenden Wandel. Ich wollte den Roman um Darwins neue These kreisen lassen, dass der Mensch nicht das Sagen über alle anderen Arten hat, sondern dass wir tatsächlich nur ein Teil davon sind und Naturgesetzen unterworfen sind, die sich unserer Kontrolle entziehen. Ich machte mich auf die Suche nach einem amerikanischen Korrespondenten und Förderer von Darwins Ideen und fand Mary Treat. Obwohl sie als Wissenschaftlerin ihrer Zeit weit voraus war, ist sie praktisch unbekannt. Aber zu meiner Freude fand ich in der Historischen Gesellschaft in Vineland, New Jersey, eine Schatzkiste ihrer Briefe und Papiere.

In Ihrem Roman gibt es viele historische Figuren, die Parallelen zur heutigen Zeit aufweisen, zum Beispiel Landis/Trump. Auf welche Weise, glauben Sie, kann ein historisches Setting helfen, die Gegenwart besser zu verstehen?

Nichts in einem Roman unterliegt dem Zufall, glauben Sie mir! Es ist eine Menge harter Arbeit. Ich habe jahrelang recherchiert, bevor ich diesen Roman schreiben konnte. Ich wollte historische Figuren und Schauplätze finden, die sich gegenwärtigen Parallelen gut gegenüberstellen ließen. Als ich die Archive von Vineland durchstöberte, wurde mir klar, dass ich nicht nur einige großartige Charaktere, sondern auch die perfekte Kulisse und die perfekten Umstände für meinen Roman gefunden hatte. Nicht nur Mary Treat, sondern so viel mehr: Sie lebte in einer sogenannten utopischen Gemeinde, die auf falschen Versprechungen beruhte und von einem korrupten, profitgierigen »starken Mann« angeführt wurde, der damit prahlte, jemanden auf der Hauptstraße erschossen zu haben! All das ist wirklich passiert, in den 1870er-Jahren! Ich kann mein Glück immer noch nicht ganz fassen.

Ich wollte Vergangenheit und Gegenwart zueinander in Relation setzen, um menschliches Verhalten zu erforschen: Wie reagieren Menschen, wenn ihre grundlegendsten Ansichten bedroht sind? Wie scheitern sie oder wie haben sie Erfolg? Was unterscheidet die lächerlichen, altmodischen Ewiggestrigen von den Innovator/innen? Ich liebe solche Fragen. Letztendlich dreht sich ein Roman um die menschliche Psyche.

Als das Buch 2018 in den USA erschien, wurde es von manchen als eine Art literarischer Kommentar zu Trumps erster Amtszeit als Präsident gelesen. Wie wurde die Entwicklung des Romans davon beeinflusst? Und hat sich Ihre eigene Sicht auf den Roman verändert, da die Welt nun unerwartet mit einer zweiten Amtszeit Trumps konfrontiert ist?

Ich war meiner Zeit schon immer ein bisschen voraus. Ich glaube nicht, dass Trumps zweite Amtsperiode »unerwartet« kam. Wir sind schon lange darauf zugesteuert. Die alte Ordnung hält verzweifelter und gefährlicher denn je an ihren alten Denkweisen über Patriarchat und Macht, Konsum, Anspruchsdenken und Widerstand gegen Veränderungen fest. Der Roman ist heute noch aktueller als bei seinem Erscheinen in den USA 2018. Ich bin froh, dass er nun auch für deutsche Leser/innen erhältlich ist.

Warum sehnen sich die Menschen in Krisenzeiten immer nach dem sogenannten »starken Mann«, einem Führer, der an der Vergangenheit festhält?

Weil die Zukunft beängstigend sein kann. Es ist schwer, die vertraute Welt loszulassen, wenn man die Regeln einer neuen noch nicht versteht.

Wie Cutler in Ihrem Roman entlässt der derzeitige US-Präsident Wissenschaftler/innen und streicht den Universitäten die Fördermittel. Wissenschaftler/innen wie Timothy Snyder, Marci Shore, Jason Stanley haben angekündigt, die USA zu verlassen. Manche befürchten eine Art »Brain Drain«, die Abwanderung von Akademiker/innen, Wissenschaftler/innen und hochqualifizierten Fachkräften. Haben Sie aufgrund der gegenwärtigen politischen Entwicklung schon einmal daran gedacht, das Land zu verlassen?

Ja, Widerstand gegen eine neue Ordnung beinhaltet oft die Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und sorgfältiger Analysen aller Art, weil Leugnung auf Lügen basiert, während die Wissenschaft auf empirischen Beobachtungen beruht, die die Strukturen der Unwahrheit entlarven. Es ist eine harte Zeit für Wissenschaftler/innen oder bedachte Menschen in den USA. Und ja, es gibt bereits eine Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte – wenn Wissenschaftler/innen ihre Finanzierung verlieren, müssen sie sich anderweitig nach Unterstützung für ihre Arbeit umsehen. Dasselbe gilt für Universitäten und Student/innen.

Aber was mich betrifft: Ich werde nirgendwo sonst hingehen. Ich glaube, mein Land braucht Künstler und Künstlerinnen mit Gewissen, jetzt mehr denn je. Das ist nicht nur Trumps Land, es gehört mir und Millionen anderer Menschen, die an die Wahrheit, an Gerechtigkeit und an Mitgefühl glauben. Künstler/innen müssen Vorbilder an Widerstand und Hoffnung sein.

Sie haben einen Teil Ihrer Kindheit in Afrika verbracht und später in Frankreich und auf Teneriffa gelebt. Sie sind in Ihre Heimat, die Appalachen, zurückgekehrt, wo Sie heute wieder leben. Wie hat diese lebenslange Erfahrung, die Heimat zu verlassen, nach Hause zurückzukehren und ein neues Zuhause aufzubauen, Ihr Schreiben im Allgemeinen und dieses Buch im Besonderen beeinflusst?

Ich bin wirklich dankbar für die Mischung aus Glück, Mut und beruflichen Möglichkeiten, die es mir ermöglicht hat, in unterschiedlichen Teilen der Welt zu leben. Reisen – nicht Tourismus per se, sondern das wirkliche Kennenlernen anderer Orte – ist meiner Meinung nach die bereicherndste Form der Bildung. Ich konnte so viel über Menschlichkeit, Kultur und Werte lernen, dass es viele verschiedene Arten gibt, die Welt zu betrachten, und keine davon wirklich richtig oder falsch ist. Ich habe gelernt, mich in jede mögliche Perspektive hineinzuversetzen, was eine notwendige Fertigkeit für eine Romanautorin ist. Aber ich bin auch dankbar für den Ort, den ich mein Zuhause nenne. Letztendlich glaube ich, dass das Gefühl der Zugehörigkeit – zu einem Ort, einer Familie, einer Kultur, einem Volk – das Wertvollste am Menschsein ist. Wenn es eine Sache gibt, die mich in meinen Texten immer wieder umtreibt, dann ist es diese dynamische, nie endende Spannung zwischen individueller Erfahrung und kollektiver Zugehörigkeit.

»Unbehaust stehen wir im hellen Licht des Tages.« Und: »Unbehaust fühlen wir uns dem Tod ausgesetzt«, heißt es in Ihrem Roman. Könnten Sie das näher ausführen?

Ja, das habe ich bereits. Es ist ein ganzer Roman.

Welche Rolle können Literatur und Kunst dabei spielen, Empathie und Mitgefühl in unserer Gesellschaft zu fördern? Und muss sich die Rolle von Literatur und Kunst, von Schriftsteller/innen und Künstler/innen angesichts des rasanten Wandels in der Welt ändern?

Wie ich bereits erwähnt habe, glaube ich, dass Gesellschaften ihre Schriftsteller/innen und Künstler/innen am meisten brauchen, wenn sie sich verändern und darum kämpfen, zu verstehen, wie die Dinge auf neue Weise zueinanderpassen. Es gibt ein Zitat von Václav Havel, das ich besonders liebe: Hoffnung ist die Fähigkeit, sich für etwas einzusetzen, weil es gut ist, und nicht nur, weil es Aussicht auf Erfolg hat. Genau das können wir Künstler/innen tun. Wir können die Umrisse einer besseren Welt aufzeigen, nach der wir alle streben können, selbst wenn es wie ein unmögliches Unterfangen erscheint. Außerdem lädt die Literatur die Leser/innen dazu ein, sich in andere Leben hineinzuversetzen und wirklich zu erfahren, wie es sich anfühlt, jemand anderer zu sein, vielleicht mit einem anderen Gender oder einer anderen Ethnie oder einem anderen wirtschaftlichen Hintergrund oder mit all diesen Eigenschaften gleichzeitig. Diese Erfahrung baut die Barrieren zwischen uns selbst und den Menschen ab, die wir als »anders« betrachten. Das erschafft Empathie. Und genau davon, mein Freund, brauchen wir mehr, um die Welt zu retten.

Sie haben sich schon immer für Projekte zum Schutz der Umwelt und für Menschen in Not engagiert. 2025 gründeten Sie und Ihr Mann die »Higher Ground Women’s Recovery Residence«. Im Roman ist es das Baby, das einen Funken Hoffnung gibt. Was gibt Ihnen in Zeiten wie diesen Hoffnung?

Ja, ich habe die Tantiemen meines Romans »Demon Copperhead« über einen Buben, dessen Familie und Welt von der Drogensucht zerstört werden, dafür verwendet, um Menschen zu helfen, von dieser Krankheit zu genesen. Ich nutze die Einnahmen aus meinen Romanen immer, um ein Problem anzupacken, das mich überhaupt erst zum Schreiben des Romans veranlasst hat. Es fühlt sich für mich richtig an, meine abstrakten Werke mit einem ganz konkreten Engagement in der Welt zu verbinden.

Um Ihre Frage zu beantworten, was mir Hoffnung gibt: Ich betrachte Hoffnung nicht als »Geschenk« von jemandem oder von irgendwoher. Ich sehe sie als meine Pflicht an. Ich stehe morgens auf und ziehe sie mit meinen Schuhen an. Ich stelle mir bessere Möglichkeiten vor und arbeite daran, sie zu schaffen. Ich nehme die Materialien zur Hand, die mir zur Verfügung stehen – seien es Worte, Geld oder körperliche Arbeit –, und finde etwas, das ich ein bisschen besser machen kann. Wir müssen nicht alles auf einmal in Ordnung bringen. Wir reparieren, was wir können, und das ist genug, weil es so viele von uns gibt, die das tun. Ich schätze mich glücklich, in einer Zeit großer Chancen zu leben.


Barbara Kingsolver, Jahrgang 1955, wuchs in Kentucky auf und lebt heute auf einer Farm in Virginia. Sie studierte Biologie und Ökologie, ehe 1988 ihr Debütroman »Das Bohnenbaumglück« erschien. Es folgten u.a. die Romane »Siebengestirn, meine Tochter«, »Die Giftholzbibel«, »Das Flugverhalten der Schmetterlinge«, Gedichte und Essays. Ihr Werk wurde u.a. mit dem PEN/Faulkner Award und dem Pulitzer-Preis (für »Demon Copperhead«) ausgezeichnet. Sie setzt sich für Menschen in Not und die Umwelt ein. Für ihr humanitäres Engagement erhielt sie die National Humanities Medal.

Die Unbehausten
Ü: Dirk van Gunsteren
dtv, 624 S.