Der Preis zum Wissenschaftsbuch des Jahres wird vom österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung ausgeschrieben und prämiert die besten deutschsprachigen, wissenschaftlich fundierten Sachbücher: Hier stehen sie im Mittelpunkt und mit ihnen jene Personen, die Forschung betreiben und durch ihre Publikationen vermitteln. Gleichzeitig macht der Preis deutlich, wie sehr das Buch das zentrale Medium für die Wissensvermittlung ist.
Jetzt hat das Publikum entschieden: Knapp 8.300 Stimmen wurden bei der diesjährigen Wahl bis zum 9. Januar abgegeben, nun stehen die Siegertitel des »Wissenschaftbuch des Jahres 2023« fest. Buchkultur gratuliert den Gewinner/innen herzlich!
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaft:
Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen (Kremayr & Scheriau)

Kohlenbergers detaillierte Analyse des Umgangs mit Vertriebenen zeichnet die historischen und gegenwärtigen Entwicklungen aus rechtlicher, gesellschaftlicher und individueller Perspektive nach und zeigt, wie wir zu einer menschlichen Asyl- und Integrationspolitik kommen könnten. Das Ergebnis ihrer wissenschaftlich ausgreifend untermauerten analytischen Studie: Flucht ist traumatisierend — und paradox: Man sucht Sicherheit, muss dafür aber sein Leben aufs Spiel setzen. Und muss Recht brechen, nämlich »illegal« Grenzen passieren, um zu seinem Recht auf Asyl zu kommen. So ist dieses Thema von zahlreichen Widersprüchlichkeiten geprägt, die eine Lösung der Flüchtlingsfrage geradezu verunmöglichen. »Das Fluchtparadox« erörtert diese Widersprüchlichkeiten, die seit geraumer Zeit in Europa bewusst als politische Instrumente eingesetzt werden und sich zu einem größeren System zusammenfügen. Kohlenberger beschreibt sie im weiteren Sinn auch als Legitimationspraktiken, die den Status quo als gegeben und neutralisiert darstellen. Werden sie jedoch als Netze von Bedeutungen erkannt, können sie aufgelöst und schließlich auch als lösbar verstanden werden. Dabei fordert Kohlenberger, theoretisch fundiert durch Hannah Arendts Proklamation gegen die Banalität des Bösen und instruktiv Bezug nehmend auf Theorien des Soziologen Zygmunt Bauman, geltendes Recht umzusetzen.
Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien. Im Herbst 2015 war sie an einer der europaweit ersten Studien zur großen Fluchtbewegung beteiligt. Sie wurde 2019 mit dem Kurt-Rothschild- Preis des Dr.-Karl-Renner-Instituts und 2021 mit dem Förderpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.
Medizin/Biologie:
Fritz Breithaupt: Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen (Suhrkamp)

Erzählstrukturen begegnen uns überall: In Unterhaltungen, Träumen, Literatur und vielem mehr. Fritz Breithaupts Buch beschäftigt sich mit den Auswirkungen von solchen Narrativen auf das Gehirn: Das Fundament seiner Forschung bilden umfangreiche Untersuchungsreihen zu der Frage, wie Erzählungen sich verändern, wenn sie weitererzählt werden. Das Ergebnis dieser klugen und empirisch breiten Studie, die zugleich eine Theorie zur Evolutionsgeschichte des Erzählens bildet: Erzählvorgänge erfüllen wichtige soziale Funktionen, da vor allem die Emotionen, die Geschichten hervorrufen, in Erinnerung bleiben. Erzählen ist somit nicht nur bloß wohltuend, sondern es verhilft auch zu sinnstiftenden Denk- und Lebensformen und dient zudem als Bewältigungsmethode für tragische Ereignisse. Narratives Denken macht hiernach glücklich und ermöglicht Empathie mit anderen Lebewesen. Fiktionale schöpferische Welten sind somit anthropologisch unverzichtbar: Sie ermöglichen die Identifikation mit Anderen, fördern und schulen Empathie, bündeln Aufmerksamkeit und brechen starre Rollenmuster auf. Das zeigt Breithaupt eindrücklich in diesem gewichtigen Beitrag zur Narratologie und Neurobiologie.
Fritz Breithaupt, 1967 in Meersburg am Bodensee geboren, lehrt seit 1996 an der Indiana University in Bloomington, USA, seit 2010 als Ordinarius für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaften sowie als Affiliate Professor für Kognitionswissenschaften. Er leitet dort das Experimental Humanities Lab.
Naturwissenschaft und Technik:
Thomas Bugnyar: Raben. Das Geheimnis ihrer erstaunlichen Intelligenz und sozialen Fähigkeiten (Brandstätter)

Raben sind zurecht bekannt für ihre Cleverness, dennoch umranken sie viele Mythen, mit denen dieses Buch aufräumt, in dem es in das Leben, Denken und Fühlen der Raben einführt. Leben Kolkraben wirklich so streng in Zweierbeziehungen wie Ehepaare? Warum verlassen sie ein Gebiet, in dem es genug Nahrung gibt? Wie gelingt es ihnen, sich in andere hineinzuversetzen? Diese Fragen beantwortet Thomas Bugnyar in seinem ersten, überaus ansprechend gestalteten Buch: Er räumt viele Mythen aus und entlarvt in diesem mit schönen Farbfotografien ausgestatteten Band zahlreiche Schwarz-Weiß-Vorstellungen; und zeigt dabei auch, was diese über Jahrhunderte als Aasfresser geschmähten Tiere mit uns gemeinsam haben: Bugnyar schildert, wie ausdifferenziert ihr Sozialsystem ist, wie sie tarnen, täuschen, bluffen, tricksen und welche Strategien sie bei der Kommunikation mit Artgenossen einsetzen. Der Autor macht das mit leichter Hand in einem zugänglichen Parlando und mit übergroßer Begeisterung — seine Faszination bei der Schilderung vieler Experimente steckt an. Die kognitiven Leistungen der »Corvidae« kommen nämlich jenen von Menschen und anderen Primaten erstaunlich nah.
Thomas Bugnyar, 1971 in Eisenstadt geboren, studierte in Wien, den USA und Schottland. 2008 Habilitation in Kognitionsbiologie. Er lehrte in Tübingen, seit 2009 an der Universität Wien. Er gründete die Forschungsanlage am Haidlhof, Bad Vöslau, mit, der er vorsteht. Leiter des Departments für Kognitionsbiologie an der Universität Wien.
Junior Wissen:
Elisabeth Elz | Nini Spagl: Ein Baum kommt selten allein (leykam), ab 6

Bäume sind die ältesten Lebewesen unserer Erde: Und auch sie kümmern sich um ihre Nachbarn und ihren Nachwuchs und bilden mit ihren Artgenossen zusammen ein weit verzweigtes »Sozialsystem«. Sie machen sich lautstark bemerkbar, wenn sie Durst haben, und manchmal sind sie sogar schüchtern: Das alles erfährt man staunend in diesem spannenden Entdecker- und Mitmachbuch von Elisabeth Etz und Nini Spagl. Großes Wissen über Bäume wird in diesem Mitmachbuch für Kinder ab 6 Jahren in humorvollen und verständlichen Texten vermittelt: Das Buch informiert etwa über Vorkommen und Arten, über Photosynthese und wie wichtig Bäume in Städten sind. Die Kapitel sind ausführlich und lassen dazwischen immer wieder Platz zum Malen, Kritzeln und Einkleben, sodass die jungen Leser/innen auch interaktiv gefordert und dazu angeregt werden, sich eingehend mit diesen für unseren Planeten so wichtigen Holzpflanzen zu beschäftigen.
Elisabeth Etz, geboren 1979 in Wien, wo sie nach Aufenthalten in Berlin und Istanbul nun wieder lebt. Nini Spagl, 1977 in München geboren, studierte Architektur in Innsbruck, machte einen Lehrgang zur Buchgestalterin in St. Pölten und bildet sich derzeit im Bereich Animation weiter.
Weitere Informationen unter www.wissenschaftsbuch.at
Die Preisverleihung findet am 24. April um 19 Uhr in der Wiener Aula der Wissenschaften statt. Sie können sich hier zu dieser Veranstaltung anmelden!