Aus Buchkultur 187 | Dezember 2019. Foto:
/Wikimedia Commons.Ein paar Inhaltsangaben zu einigen frühen Texten von Peter Handke: In der Erzählung „Begrüßung des Aufsichtsrats“ überfährt ein Auto mit ein paar von dessen Mitgliedern darin ein Kind. Dessen Vater beaufsichtigt als Portier den Eingang des Gebäudes, in welchem die Aufsichtsratssitzung statttfindet.
Im „Augenzeugenbericht“ gleitet einem Mann eines seiner Kinder, das er getragen hat, vom Arm, fällt auf den Boden und stirbt. Als er vor Gericht nachstellen soll, wie das Unglück passieren konnte, geht er auf die Mutter zu, die ihr zweites Kind festhält, nimmt es ihr ab, und lässt es ebenfalls wegrutschen, so dass auch dieses Kind fällt und zu Tode kommt.
In der „Lebensbeschreibung“ wird der Gottessohn nahe Jerusalem „ans Kreuz gehenkt“. Handke berichtet darüber wie ein Reporter, der zeigen möchte, wie gut er mitzählen kann. Denn der Sterbende gab im letzten Augenblick „noch sieben Worte“ von sich.
In dem Roman „Die Hornissen“ geht ein Mädchen, welches Schlimmes erlitten hat, in einen Wald und schneidet sich die Pulsadern mit einem Brotmesser auf. Ihr Blut tropft „wichtigtuerisch über die Brombeeren“. In „Die Buchstabenformen“ hält ein Kapitän, von dem der Erzähler bei Joseph Conrad liest, einen Mörder in seiner Kajüte verborgen.
Und Josef Bloch hat in „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ eine Sportlerkarriere hinter sich und soeben seinen aktuellen Job als Monteur verloren. Innerlich aufgewühlt lernt er darauf die Kinokassiererin Gerda kennen. Im Gespräch mit ihr bekommt er bald den Eindruck, „dass sie von Dingen, von denen er ihr gerade erst erzählt hatte, schon wie von ihren eigenen Dingen redete.“ Gerda wird das Gespräch nicht überleben.
Mit anderen Worten: Ein Autounfall und rutschige Arme. Die Anzahl letzter Worte und Körperflüssigkeit, die wichtigtuerisch tropft. Erzählte Dinge und ein Mörder im Bauch des Schiffs. Die aufgeführten und weitere Texte, welche deren Autor in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zuerst bekannt gemacht haben, werden von willentlich oder zufällig herbeigeführten Toden in Gang gesetzt. Damals konnte Handke so makaber, tragisch und gleichzeitig so lustig schreiben wie niemand sonst. Völlig neue Gedanken kullerten oder sprangen aus ihm so selbstverständlich heraus wie zur gleichen Zeit Liedtexte aus Bob Dylan. Handke machte vor keinem Genre halt und schrieb schon lange vor seinen späteren „Versuchen“ offensive Essays. In „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ etwa sagte er 1967 dem „Realismus“ den Kampf an. „Dinge beim Namen zu nennen“ sei ein Mittel, um sie „undenkbar werden zu lassen“. Sie verlören dann ihre Beweglichkeit, und es erledige sich damit jede Hoffnung, über sie noch etwas herauszufinden geschweige denn darüber, wie sich „präziser und sensibler leben“ ließe.
Eine Reihe literarischer Errungenschaften seien längst von anderen Disziplinen eingeholt worden, mancher „Methoden der konkreten Poesie“ etwa „habe sich die Werbung bemächtigt.“ Deshalb ginge es ihm, Handke, auch nicht darum, „die Wirklichkeit zu zeigen oder zu bewältigen, sondern es geht mir darum, meine Wirklichkeit zu zeigen (wenn auch nicht zu bewältigen).“
Das schrieb Handke vor über 50 Jahren, und es hat den Anschein, dass ihm inzwischen etliche Autor/innen in seinen Analysen gefolgt sind. Unter ihnen Robert Seethaler, wenn er gefasst und tränenschön „Ein ganzes Leben“ schildert. Oder David Foster Wallace, den mit Handke das Vergnügen am fast spielkindhaften Experiment mit der Sprache verbindet. Handke ging mit der Literatur von Anfang an so gekonnt, frech und produktiv um wie die Popstars der Zeit mit Klängen und Stilen. Er ging dabei weiter als Pop-Literaten, er schrieb deutschsprachige Popmusik
avant la lettre. In seiner vermeintlichen Überfliegerei, seiner Blitzgescheitheit und seiner sportlichen Bereitschaft, überall dorthin zu gehen, wo es interessant zu werden verspricht, mag auch ein Grund für die Ressentiments liegen, die Handke immer wieder auf sich zieht und gezogen hat. Aus der Sicht mancher seiner Kritiker ist er von Anfang an viel zu jung gewesen, und viel zu schnell und mühelos ins Rampenlicht geprescht. Dazu kann er weder eine Mitgliedschaft in der Waffen-SS vorweisen noch auch nur das kleinste bisschen Kampferfahrung im Zweiten Weltkrieg. Nicht zuletzt hat er den Büchner-Preis als Jüngster bekommen und war dann auch noch frech genug, den Preis später wieder zurückzugeben. Peter Handke ist einfach zu unabhängig.
Kristof Schreuf (+ 2022), geboren 1963, war Sänger der Bands Kolossale Jugend und Brüllen. Mit dem Produzenten und Musiker Tobias Levin nahm er das Album „Bourgeois With Guitar“ auf. Sein erstes Buch erschien 2019 bei edel books: „Udo Lindenberg. Mach dein Ding: Die frühen Jahre – wie aus dem kleinen Matz der große Udo wurde“. Er verfasste Texte für die FAZ, Süddeutsche Zeitung u.a., Musik für Theater, Beiträge für Anthologien. Foto: Conny Lösch.