Ian McEwans meisterhaft erzählter Roman »Lektionen« schlägt einen weiten Bogen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute.
Welche »Lektionen« erteilt uns das Leben? Welche Auswirkungen haben private und politische Ereignisse auf unser Schicksal? Als Sohn eines britischen Armeeoffiziers hat Roland Baines seine halbe Kindheit in Libyen verbracht – wie Ian McEwan. Nun ist er elf und kommt nach England aufs Internat. Die Missbrauchsgeschichte, die ihm als Klavierschüler widerfährt, wirft Schatten auf sein ganzes späteres mutloses Leben.
Fast dreißig Jahre später, 1986, lässt ihn seine Frau Alissa mit dem gemeinsamen Baby zurück, um sich ihren literarischen Ambitionen zu verschreiben. Kunst oder Leben? Roland zieht seinen Sohn allein groß. Als junger Mann wollte er selbst Dichter werden, aber er hat es bei ein paar Versuchen bewenden lassen. Als Kind sagte man ihm eine große Zukunft als Klaviersolist voraus, doch nun verdient er sich als Barpianist ein Zubrot. Viel zu spät findet er den Mut, sich erneut zu binden.
»Lektionen« erzählt teils nah an McEwans eigener Biografie: Wie Roland im Buch entdeckte er im Jahr 2002, dass er einen älteren Bruder hat, der als Baby zur Adoption freigegeben worden war.
Verpasste Gelegenheiten, Opfer und Glück der Elternschaft, Trost des Zusammenhalts: Am Ende hält Roland Rückschau auf ein desaströses Jahrhundert und ein verschwindendes Leben. Lernt der Mensch je aus der Geschichte? Welche Welt hinterlassen wir? Was bleibt von einem »gewöhnlichen« Leben? Ian McEwan hat ein schmerzlich schönes Schlussbild für sein Opus magnum gefunden. Die großen Fragen bleiben ungelöst. Doch solange ein kleines Mädchen liebevoll die Hand seines Großvaters ergreift, gibt es Hoffnung.
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Ian McEwan
Lektionen
Ü: Bernhard Robben
Diogenes, 720 S.