Erwin Riess’ jüngster Groll-Titel spielt in seiner engeren Heimat – der Wachau. Ein Fundus für den Autor und Gesellschaftswissenschafter. Sylvia Treudl hat das Duo Riess/Groll getroffen. Foto: Alexander Golser.

Zuerst erschienen in: Buchkultur Österreich Spezial, Oktober 2014.


Ich treffe Erwin Riess in Transdanubien beim Binder-Heurigen, wo der »Ständige Ausschuss zur Klärung sämtlicher Welträtsel«, das heißt: Grolls Freundeskreis, in Permanenz tagt. Ich bin veritabel eingeschüchtert, denn ich darf, ganz ausnahmsweise, als Zaungast dabei sein – und es versteht sich, dass deshalb bei dieser Sitzung eher Marginalien abgehandelt und die Rätsel aus politischer Ökonomie, der Kultur- und Gesellschaftspolitik ausgeklammert werden. »Den Terminus Kultur will ich im Kontext mit dem Ausschuss nicht erwähnt wissen, warum das so ist, erkläre ich ausführlich in meinem Prolog zur neuesten Schrift. Darüber hinaus sollten Sie begriffen haben, dass die Beratungen des gestrengen Konvents der absoluten Verschwiegenheit unterliegen.« Mit wütender Eleganz dreht das Duo Groll/Josef sich von mir weg und ich vernehme zorniges Bühnenmurmeln, mit dem ich an die Struktur des Ausschusses erinnert werde: Niemand kann sich zur Aufnahme bewerben, wer auserwählt wird, kann nicht ablehnen – und bleibt dem Konvent auf Lebenszeit verpflichtet.

Zerknirscht versuche ich Abbitte, indem ich mich begeistert zum jüngsten Bericht »Herr Groll und das Ende der Wachau« äußere. Prompt kommt zurück: »Was mich anlangt, bin ich eine Instanz. Ich verbitte mir daher Interpretationen ebenso wie Kritik, auch positive.« Natürlich ist alles ganz anders. Wir treffen einander in Stammersdorf beim Fuchs-Heurigen, der schräg vis-à-vis vom Binder liegt, und Erwin Riess ist der charmante, kluge, hochpolitische und offene Gesprächspartner, als den ich ihn seit langem kenne.

Obwohl ich weiß, dass es nicht zulässig ist, den Autor mit seinem Protagonisten zu verwechseln, laufen die Konturen von Schriftsteller und Hauptfigur ab und zu ineinander. Zum Beispiel, wenn Herr Groll feststellt: »Ich glaube an die Binnenschifffahrt. Da weiß man, woran man ist.« Und ich behaupte, dass Erwin Riess allein anhand des Motorengeräuschs eines bergwärts fahrenden Schubverbandes Auskunft über Bruttoregistertonnen und Herkunftsland geben kann. Der jüngste Groll-Titel spielt in Riess’ engerer Heimat, der Wachau. Krems, Gneixendorf und die Dörfer der Wachau erscheinen in ihrer hässlichen und hässlich verdrängten Vergangenheit. Ein Fundus der Erinnerung für einen, der in der Werkssiedlung der ehemaligen »Hütte Krems« sozialisiert wurde und erst spät erfuhr, dass Werk und Werkssiedlung von französischen und holländischen Kriegsgefangenen und KZlern erbaut wurden. Ein weites Feld für den Historiker Riess, wenn es um die gesamte Wachau-Region geht.

Immer wieder besticht Erwin Riess durch penible Recherche. Leichthändig lässt er das verschüttete Wissen als Information einfließen und knüpft daran scharfsinnige Analysen. Auf diese Art gelingt ihm ein genialer Kunstgriff; er führt den Bildungs- und Schelmenroman im Kleid eines Krimis vor, stets durchbrochen von Ironie und einem oszillierenden Spiel mit Dichtung und Wahrheit.

Der Dramatiker Riess verfasste bereits mit Anfang Zwanzig ein opulentes Lehrstück in Brechtscher Manier und bleibt auch in der Folge, neben Prosa und Essay, dem Theater treu. Mit der Figur des Herrn Groll, dessen patenten Rollstuhl Josef und dem ständigen Begleiter, dem Dozenten, hat Erwin Riess der Gegenwartsliteratur einen kritischen Stachel eingepflanzt.


Erwin Riess, geboren 1957, aufgewachsen in Krems, studierte Gesellschaftswissenschaften in Wien. Seit 1978 ist er wegen eines Rückenmarktumors Rollstuhlfahrer. Er schrieb zahlreiche Romane, Theaterstücke, Hörspiele, Essays und Reportagen. Außerdem engagiert er sich in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen.

Erwin Riess
Herr Groll und das Ende der Wachau
Otto Müller Verlag, 260 S.