Digital ist besser. (Tocotronic, 1995)

When too perfect, lieber Gott böse. (Nam Jun Paik, 1995)


„Die klimatischen Bedingungen, unter denen Bücher gedeihen können“, davon ist Günter Karl Bose überzeugt, „sind nicht überall die gleichen. In Leipzig mögen sie immer schon besondere gewesen sein.“ Fast 25 Jahre, von 1993 bis 2017, war Bose Professor für Typografie an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB). Als er kam, revolutionierten sich gerade die grafischen Werkzeuge; Computer waren langsame, unförmige Kästen. Internet? Fehlanzeige. Wenig später diskutierte man in Leipzig über einen neuen Namen für die altehrwürdige Schule. Statt „für Grafik und Buchkunst“ sollte es „für Kunst und Medien“ heißen. „Buchkunst“ schien manchen ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Dennoch herrschte Aufbruchsstimmung. Mehr als vorher stellte man sich die Frage, was ein Buch wirklich ausmacht. Gerade in Zeiten, wo Dinge zu verschwinden drohen, findet Bose, nimmt das Gespür für ihre Eigenarten zu. Ein Gefühl von Freiheit. Junge Buchgestalter, die sich – ganz ohne Marktzwänge – als Forscher, Autoren und Herausgeber erproben können? Warum nicht. Im Biotop der HGB ist über die Jahre keine neue „Leipziger Schule“ der Buchgestaltung entstanden, eher eine Haltung, die, statt alte Antworten zu konservieren, neue Fragen stellt. „Es ist eine Art von Essayistik mit Mitteln der Buchgestaltung“, sagt Bose, „eine visuelle Essayistik. Es geht darum, die Erfahrung mit den eingesetzten Mitteln auf die Spitze zu treiben: Was tue ich jetzt hier? Welche Möglichkeiten habe ich?“

Die Independent-Publishing-Messe It’s A Book ist so ein realexistierender Diskurs- und Erfahrungsraum. 2010 hatte Markus Dreßen, Professor an der HGB, das Projekt gemeinsam mit Anne König und Jan Wenzel vom gemeinsam geführten Verlag Spector Books aus der Taufe gehoben; 2014 übernahmen die Studierenden der HGB. Seither verwandelt sich der Lichthof der Hochschule jeden März, parallel zur Buchmesse, in einen Tauschplatz für Bücher und Wissen. Rund 60 Akteure der internationalen Indie-Publishing-Szene waren bei der letzten Ausgabe 2019 dabei, ein Symposion und eine eigens entwickelte Zeitung begleiteten das Projekt. Abends wurde gemeinsam gefeiert. Die für 2020 geplante Jubiläums-Veranstaltung „It’s A Book, It’s A Buzz, It’s Time To Discuss“ musste, wie die Buchmesse, pandemiebedingt abgesagt werden, fürs laufende Jahr sind die Studierenden ins Netz ausgewichen. „Wir bereiten eine Website vor, die auf der einen Seite ein Marktplatz für Verlage und Publikationsprojekte sein wird“, erklärt Markus Dreßen. „Dazu kommen, quasi auf der Rückseite, das Symposion, die Gespräche, die Schaufenster. Da wir digital sind, werden wir stärker als bisher die Welt in den Fokus nehmen.“ 

Seit Plakate Mitte des 19. Jahrhunderts massenhaft produziert werden können, prägen sie das Erscheinungsbild der Städte. An den Pariser Bauzäunen der 1890er Jahre etwa dominierten die Reklameposter Toulouse-Lautrecs, die für die Unterhaltungskünstler des Montmatre warben. Der 1984 in Greifswald geborene Grafik-Designer Pierre Pané-Farré, Absolvent der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst und Meisterschüler des hier lehrenden Holländers Fred Smeijers, forschte zur Frühphase der Zeit, in der sich große Schriften ins Display der Städte eingeschrieben hatten. „Soirée Fantastique“ heißt der Band, in dem Pané-Farré Plakate des Leipziger Druckers Oskar Leiner mit historischen Fotos der Stadt zu einem typografischen Gesamtkunstwerk kombiniert. Der Band wurde 2017 als eines der „Schönsten Deutschen Bücher“ ausgezeichnet, im Wettbewerb um die „Schönsten Bücher aus aller Welt“ erhielt er 2018 eine Goldmedaille. Die andere, nicht weniger aufwändige Seite der Arbeit: Zusammen mit Stephan Müller und Reymund Schröder hat Pané-Farré das Label Forgotten Shapes gegründet, das sich der Erforschung und werktreuen digitalen Rekonstruktion historischer Schriften widmet. 

2012 riefen Florian Lamm, der aus Hannover an die HGB kam, und der gebürtige Dresdner Jakob Kirch, der bei Günter Karl Bose studiert hat, ihr Label Lamm & Kirch ins Leben. Seither arbeiten die beiden vor allem für Kunden aus dem deutschsprachigen Kulturbereich; ziemlich erfolgreich, wie die gewonnenen Preise nahelegen. Die Digitalisierung erlaubt räumlich getrennte Schreibtische im Leipziger Kolonnadenviertel und in Berlin Neukölln, was nicht ohne Folgen für den Charakter der Arbeit und die Produktion bleibt. Noch gestalten Lamm + Kirch vorrangig Drucksachen. Doch ihr Interesse gilt schon jetzt mehr und mehr der Schnittmenge zwischen digitalem und analogem Publizieren. Nicht um entweder oder geht es, sondern um zwei sehr unterschiedliche Qualitäten, die aufeinandertreffen. Angst, selbst wegdigitalisiert zu werden, haben Lamm und Kirch nicht: Noch ist kein Algorithmus in Sicht, der ihre gestalterischen Kompetenzen, ihre Empathie, ihr politisches Bewusstsein sang- und klanglos übernimmt. Mögen die Einschläge auch näher kommen.  

Nils Kahlefendt ist Repräsentant der Stiftung Buchkunst in Leipzig und arbeitet als freier Autor und Journalist u. a. für den Deutschlandfunk, MDR Kultur, F.A.Z. und das Branchenmagazin Börsenblatt. Für die Stiftung Buchkunst entwickelte er das Podcast-Format „Leipzigs neue Seiten – Buchgestaltung zwischen Tradition und digitaler Zukunft“; die Folgen erscheinen im Zwei-Monats-Rhythmus auf Plattformen wie Spotify oder Apple Podcast sowie der Website der Stiftung Buchkunst. (Fotos: Gert Mothes)