Neulich habe ich irgendwo auf einem Portal, das für Regio-Krimis wirbt, gelesen, das Faszinosum dieses Subgenres liege für das Publikum darin, das »Fremde im Vertrauten« zu erfahren. Das Fremde, so vermute ich, dürfte ein Verbrechen sein, gar ein Mord, das im Vertrauten, also in der jeweiligen Region, eigentlich gar nicht vorkommen dürfte, weil dieser oder besser, hochgerechnet, allen denkbaren Regionen Verbrechen, gar Mord wesensfremd seien. Das ist zwar lebensweltlicher Unfug, taugt aber zur Begründung einer Fiktion bestens. Einerseits versichert man dem Lesepublikum, seine Umgebung sei an und für sich gut, bis das Fremde einbreche. Das aber könne man beliebig ohne reale Gefahr für Leib und Leben dazubuchen oder -kaufen, als Fiktion, als Amüsement, als Angstlust oder Grusel. Das gilt natürlich nicht nur für Regionalkrimis. Kriminalliteratur, bekanntlich ja von albern bis tragisch im Angebot, gehört, ob sie will oder nicht, zu den Gewaltdiskursen unserer Gesellschaften, die wiederum ihre jeweiligen Gewaltgeschichten haben. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Das ist unangenehm und unbehaglich, man möchte damit eigentlich nichts zu tun haben, bekommt aber dennoch eine Ahnung, dass es auch ein eigenes Gewaltpotenzial geben könnte. Also neigt man dazu, Gewalt, Grausamkeit, Verbrechen und andere unschöne Phänomene auszulagern — sie werden dem »Anderen«, dem »Fremden« zugeschrieben. Dazu benötigt man Distanz. Womit wir endlich bei den Leichen angekommen wären. Viele, viele Leichen, ein hoher Bodycount ist — literarisch gesehen — ein sehr probates Mittel, erzählerisch »das Andere«, »das Fremde« zu unterstreichen, die eigene Faszination (oder das eigene Gewaltpotenzial) mit der Fiktion zu befrieden. Die Metzelplatten der Fitzek, Etzold etc. funktionieren in dieser Hinsicht prächtig, das Unbehagen an der eigenen Kultur respektive Disposition zu entschärfen — und wird zudem auch noch gratifiziert: durch fette Verkaufszahlen und gesellschaftliches Prestige (der nette Sebastian Fitzek etwa hat eine Fernsehtalkshow beim RBB). Insofern ist es schon bemerkenswert, dass in letzter Zeit immer mehr Kriminalromane auftauchen, deren Bodycount eher gering ist, die am Ende sogar ohne Leiche auskommen (wie etwa bei Winnie M Lis »Complicit«, eine Art Weinstein-Roman, deutsch erst 2023). Und zwar solche Kriminalromane, die nicht in einem von vornherein als rein künstlich gekennzeichneten Raum (wie im Golden Age) spielen, sondern im lebensweltlich nur allzu Vertrauten. Das ist zum Beispiel bei Tash Aws »Wir, die Überlebenden« (dt. von pociao und Roberto de Hollanda, Luchterhand, siehe Buchkultur 202) so, wo es um Arbeitssklaven, Menschenhandel und Ausbeutung geht, bei Femi Kayodes »Lightseekers« (dt. von Andreas Jäger, btb), ein Roman, der von einem Lynchmord in Nigeria erzählt, bei Sybille Ruges »Davenport 160×90« (Suhrkamp), wo die psychische Brutalität des Neoliberalismus demonstriert wird, oder bei Matthias Wittekindts »Die Schülerin« (Kampa), ein Roman um den Kriminaldirektor a.D. Manz, in dem ein Kindermord vor fünfzig Jahren heute immer noch nicht richtig bearbeitet ist. Und auch Regina Nössler, zuletzt in »Katzbach« (Konkursbuch), wirft nicht gerade mit toten Menschen um sich.

Wobei bei dieser Sortierung oft die Frage aufkommt, ob ein Kriminalroman mit solch magerem Leichenanfall überhaupt noch einer sein könne, so als habe nicht etwa Joe Gores schon 1992 mit »32 Cadillacs« (dt. Fassung vergriffen) bewiesen, dass Leichen nicht konstitutiv für »Krimis« nötig sind, nicht einmal für einen waschechten hardboiler.

Die neue Sparsamkeit an Leichen, die ich zu beobachten glaube, ist natürlich nur eine Variante in einem unendlich diversifizierten Genre, aber immerhin eine bemerkenswerte Strömung, vielleicht eher eine Unterströmung. Aber dennoch, auch wenn es paradox erscheinen mag: Durch die Drosselung der Blutströme, durch die seriöse literarische Konzentration auf die jeweiligen Todesfälle schrumpft die Distanz, diese Sorte von Kriminalromanen bewegt sich aus den Wohlfühlzonen heraus. Die dosierte, konzentrierte, komprimierte Gewalt lässt sie umso schärfer spürbar werden. Sie zwingt uns, ihr ins Auge zu sehen, und sie macht es uns schwerer, ihrer Faszination zu erliegen. Und das ist, um’s am Ende mal ganz hoch zu ziehen, zivilisatorisch sehr sinnvoll. Allerdings sollte man daraus auch keine Normativität ableiten, die Kriminalliteratur hat auch andere kreative Möglichkeiten, das Verhältnis von homo sapiens zur Gewalt zu reflektieren. Dieser kleine Text ist nur der Versuch der Beschreibung eines Trends, kein Postulat. Aber man sollte schon wissen, woran man sich warum ergötzt und erfreut. Oder eben nicht.