Seit 30 Jahren übersetzt Ursula Gräfe literarische Texte. In diesem Frühjahr erschienen gleich drei von ihr aus dem Japanischen ins Deutsche übertragene Romane. Im Buchkultur-Interview spricht sie über „ihre“ japanischen Autor/innen, die Arbeit des Übersetzens und wie sie mit negativer Kritik umgeht (aus Buchkultur 177, April 2018).

Buchkultur: Obwohl Sie 13 Autoren übersetzt haben, bringt man Sie sofort mit Murakami in Verbindung – fühlen Sie sich dadurch etwas „eingeengt“?

Nein, eigentlich nicht – Haruki Murakami (ich übersetze auch noch Ryu Murakami) ist eben der weltweit bekannteste japanische Autor. Ich freue mich sogar darüber.

Gehen Sie mit anderen Gefühlen an die Übersetzungsarbeit von Klassikern wie Kenzaburo Oe als bei weniger bekannten Schriftstellern?

Nein, ich nehme alle Texte gleich ernst. Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, dass ich nur einen halben Roman von Kenzaburo Oe übersetzt habe – „Stille Tage“. Die meisten Übersetzungen von Oes Werken werden von meiner Kollegin Nora Bierich angefertigt.

Kann man als Übersetzer das Interesse an einem Autor verlieren? An Yoko Ogawa z. B. haben Sie „nur“ von 2001 bis 2007 gearbeitet.

Das ist mir noch nicht passiert. Bei Yoko Ogawa war der Grund ein zeitlicher Engpass, ein Sachzwang sozusagen. Das war schade. Es kann vorkommen, dass sich Bücher überschneiden oder schon getroffene Vereinbarungen weitere Projekte verhindern.

Als Übersetzerin sind Sie die Schnittstelle zwischen Autor und Leser. Können Sie sich die gewisse Enttäuschung der Murakami-Fans an seinem neuen Buch erklären? Und trifft Sie negative Kritik an „Ihren“ Autoren persönlich?

Aber die Enttäuschung hält sich doch sehr in Grenzen. Die Resonanz ist überwiegend positiv. Immerhin war er bereits in der zweiten Woche nach Erscheinen auf Platz 3 der Spiegelbestsellerliste. Aber wenn ein Autor über lange Jahre sehr beliebt ist, wächst natürlich die Erwartung, dass er sich bei jedem Buch selbst übertrifft. Ja, negative Kritik beunruhigt mich wirklich – als Übersetzerin fühle ich mich immer mitverantwortlich für den Erfolg oder Misserfolg eines von mir übersetzten Buches. Das geht wohl allen Übersetzern so. Ich übersetze nur Bücher, die mir gut gefallen, das heißt, ich rechne von vorneherein damit, dass ein Buch Anklang findet.

Sex spielt bei Murakami eine große Rolle, aber auch bei Fuminori Nakamura. Ist das ein Kennzeichen japanischer (Männer-)Literatur?

Nicht unbedingt, aber ich glaube, die Schilderung von Sexualität in der japanischen Literatur im Allgemeinen und bei Murakami im Besonderen unterscheidet sich von der im „Westen“ vorherrschenden romantischen Funktion, die Sex häufig in einem Romangeschehen einnimmt. Bei Murakami z. B. geht es bei der Beschreibung sexueller Begegnungen häufiger um die Illustration eines Ausnahmezustands oder sogar einer Grenzüberschreitung als um Liebe.

In der 67. Folge des Literarischen Quartetts (2000) bezeichnete Sigrid Löffler Murakami als „literarisches fastfood“ und löste damit die sogenannte Murakami-Kontroverse aus. Sie hatte das besprochene Werk in der amerikanischen Übersetzung gelesen, die tatsächlich viel rauer, ungehobelter war als Ihre. Mit Ihren Kommentaren dazu machten Sie einen Aspekt der Übersetzungsarbeit deutlich, der bislang wenig bis gar nicht beachtet worden war: nämlich nicht nur den der „Zielsprache“, sondern auch des „Zielpublikums“. Wie sehr erlaubt das Eingriffe des Übersetzers in den Originaltext?

Murakami hat einmal gesagt: „Geschichten müssen den Lesern kalte Schauer den Rücken hinunter jagen, sie zum Weinen bringen oder so zum Lachen, dass sie sich die Bäuche halten. Sie müssen für eine Weile Hunger und Kälte vergessen machen. Er ein solcher, physisch, das heißt auf der Haut spürbarer Effekt macht eine hervorragende Geschichte aus. Sie muss den Geist der Leser an einen anderen Ort transportieren, sie ihrer Wirklichkeit entrücken. Sie muss die Mauer, die >diese Welt< von >jener Welt< trennt, für sie durchbrechen und sie auf die andere Seite schicken.“

Was ist am „Commendatore“ japanisch?

Auf jeden Fall ist der selbstverständliche Umgang mit „übernatürlichen“ Phänomenen seit jeher ein Merkmal der japanischen Literatur. Die im Buch zitierte Erzählung „Die Bande über zwei Leben“ von Akinari Ueda aus dem 18. Jahrhundert wäre hierfür ein Beispiel. Was zwischenmenschliche Beziehungen angeht, gelten natürlich in Japan häufig andere Regeln. Einerseits bleibt – aus Rücksicht auf das Gegenüber – vieles unausgesprochen, wohingegen anderes auf für uns überraschende Weise explizit gemacht wird. Oder meinten Sie die sehr „entschleunigte“ Erzählweise? Tatsächlich ist es auch eine Eigenart japanischer Texte gleiche Vorgänge aus verschiedenen Perspektiven wiederzugeben, sodass beim westlichen Leser ein Eindruck von Redundanz entstehen kann.

Ich habe gerade mit großem Vergnügen „Die Ladenhüterin“ von Sayaka Murata gelesen. Ist die witzige Zweideutigkeit des Titels bereits im Original vorhanden?

Wirklich eines meiner Lieblingsbücher. Die Übersetzung hat großen Spaß gemacht. Den Titel finde ich auch äußerst gelungen und treffend (er stammt vom Verlag). Ich hatte „Homo Convenience“ vorgeschlagen, weil das Original „Konbini ningen“ („Konbini-Mensch“) heißt. Aber so ist es natürlich viel schöner.

Es ist bemerkenswert, wie Sie jedem „Ihrer“ Autoren den eigenen Ton verleihen (wie eben der „Ladenhüterin“ den kafkaesken Humor). Das kann doch nicht einfach Routine sein …

Es freut mich sehr, dass Sie das sagen – tatsächlich empfinde ich Routine als eine Gefahr. Natürlich ist das Handwerk sehr wichtig, aber auch eine gewisse schauspielerische Neigung seitens des Übersetzers schadet nicht. Sie hilft dabei, sich in die Figuren hineinzuversetzen.

Wie würden Sie Ihren „Werdegang“ bzw. sich selber kurz beschreiben?

Vielleicht als Dilettantin? Ich gehöre zu den Menschen, die leicht Feuer fangen und gern in den verschiedensten Bereichen dilettieren – abgesehen von Japan beispielsweise für die indischen Veden, verschiedene Religionen, die englische Literatur des 16. oder 19. Jahrhunderts usw. Immer zur „leichten Muse“ neigend.

Und ein bisschen Persönliches: Hat Japan auch im Privaten einen Stellenwert? Was liest eine „Meisterübersetzerin“, wie Sie Hannah Janz in einer online-Ausgabe des „Japan Digest“ genannt hat (14.12.2016) abends im Bett?

Einmal natürlich Werke, die mit Japan zu tun haben – vor kurzem von Marion Poschmann „Die Kieferninsel“ oder auch sehr gern Amelie Nothomb. Ich schrecke aber auch nicht vor Dan Brown zurück. „Origin“ habe ich gerade zu Ende gelesen. Eine besondere Vorliebe habe ich für russische Autoren. Tschechow und Tolstoi z. B.

Ursula Gräfe, geboren 1956, hat in Frankfurt/Main Japanologie und Anglistik studiert. Sie übersetzt seit dreißig Jahren literarische Texte aus dem Japanischen, Englischen und Amerikanischen. Unter anderem von Nobelpreisträger Kenzaburō Ōe, Yoko Ogawa und Haruki Murakami.

In diesem Frühjahr sind vier von ihr aus dem Japanischen übersetzte Romane auf Deutsch erschienen:

Keigo Higashino, „Unter der Mitternachtssonne“, Tropen, 720 S.

Haruki Murakami, „Die Ermordung des Commendatore I. Eine Idee erscheint“, DuMont, 480 S.

Haruki Murakami, „Die Ermordung des Commendatore II. Eine Metapher wandelt sich“, DuMont, 500 S.

Sayaka Murata, „Die Ladenhüterin“, Aufbau, 145 S.