Warum eigentlich lesen, wenn es Netflix gibt? Warum ein Buch aufschlagen, wenn man stattdessen auch pflichtbewusst an der eigenen Instagramtauglichkeit arbeiten könnte? Es gibt viele Gründe für Literatur und keine nennenswerten dagegen. Literatur entschleunigt in dem Moment, wo ich mich ganz auf einen Text einlassen kann, ohne noch fünf Dinge nebenbei zu tun. Literatur öffnet: den eigenen Horizont, neue Perspektiven, Menschen. In einer Zeit von Mauern und Zäunen ist das ein unschätzbarer Wert. Literatur verbindet: durch Geschichten, die fremden wie die bekannten. Menschen haben schon immer erzählt, haben schon immer versucht, durch das Erzählen dem Ungeordneten eine Ordnung zu geben, einen Sinn. Dieses Bedürfnis wird nicht schwinden, weil sich auch andere Modi des Erzählens entwickelt haben. Lesen ist ein Trainingscamp für Fantasie und Empathie. Lesen ist mehr als das visuelle Abtasten von Buchstaben, es verlangt mir etwas ab; eine emotionale, imaginative Investition. Es ermöglicht mir, für einige Stunden oder Tage jemand anders zu sein. Im Grundschulalter lese ich R.L. Stines „Gänsehaut“-Reihe und habe spürbar Angst, mich im Badezimmerspiegel anzusehen. In der Geschichte, die mich gerade gefangen genommen hatte, verwandelte sich ein Junge ganz schleichend in einen Werwolf. Was, wenn mir das auch passieren würde, jetzt, hier? Das ist eine gute Frage, geboren aus der Lektüre und der Grundstein für ein harmonisches, verständnisvolles Miteinander: Was ist, wenn mir das auch passiert? Im Laufe der eigenen Lesesozialisation geht es dann irgendwann um mehr als spontanen Haarwuchs an ungewöhnlichen Stellen, aber die Frage bleibt. Und sie bleibt wichtig. Im Lesen erweitern wir das für uns Vorstellbare, indem wir (mit)erleben, wovon wir andernfalls vielleicht nie gehört hätten. Und manchmal erleben wir auch das, was wir schon zu kennen glauben. Wenn wir etwas lesen, worin wir uns erkennen, wodurch wir ins ertappt fühlen, gespiegelt, gesehen. Es sind für mich immer magische Momente, in einem Buch zu lesen, was ich selbst schon einmal dachte oder empfand – womöglich bislang unausgesprochen. Sieh mal an, denke ich dann. Dafür gibt es Worte, dafür gibt es Sprache. Um es zu benennen, braucht es nur 26 Buchstaben (und ein paar Umlaute) in dieser spezifischen Reihenfolge und Ordnung. Ich bin nicht allein.

Sophie Weigand ist gelernte Buchhändlerin, studiert Kulturwissenschaften und arbeitet als freiberufliche Kulturjournalistin. Seit 2011 betriebt sie den Literaturblog „Literaturen“.