Lange galt das Leben auf dem Land als rückständig und nicht sonderlich cool. Gerade entdecken viele wieder den Reiz der Ruhe. (Foto: Westend 61/Martin Siepmann)


Die Neunziger-Jahre waren von Großstadt-Ekstase gezeichnet, Raves und Ausgehen, die Nacht durchzumachen stand auf dem Programm. Das Leben auf dem Land galt als borniert und rückständig, auf jeden Fall nicht sonderlich erstrebenswert. 2005 kam die deutsche Zeitschrift „Landlust“ auf den Markt, die sich am ehesten mit dem österreichischen „Servus“-Magazin (ab 2010) vergleichen lässt. Den zahlreichen folgenden Magazinen war gemeinsam, dass sie Lust machen wollten auf das Leben auf dem Land, das plötzlich wieder en vogue geworden war. Marmelade einkochen, Bio-Klamotten anziehen, eigenes Brot backen: Alte Hippie-Lebensstile wurden mit den US-Terroranschlägen vom 11. September 2001, der Wirtschaftskrise und der aufkommenden Debatte um den Klimawandel wieder erneut zur Diskussion gestellt. Wenn schon die Welt den Bach runter geht, möchte man wenigstens sein eigenes Umfeld möglichst harmonisch und biologisch gestalten. „Cocooning“ nannte man den Trend, sich zu Hause einzuigeln.

Was ist ein „Gutes Leben“, fragt auch Werner Bätzing, 71, ehemaliger Professor für Kulturgeografie in seinem Buch „Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform“. Warum ist es in Zeiten einer rasend voranschreitenden Globalisierung wieder modern geworden, die Großstädte zu verlassen? Bätzing liefert eine fundierte geschichtliche Analyse, vom Beginn der Sesshaftigkeit bis zur Gegenwart. Er erklärt die Bauerngesellschaft und ihren Umgang mit der Natur, den Traditionen, bis zur Entwertung und dem Schrumpfen der ländlichen Regionen in ganz Europa. Und die erneute Aufwertung durch aktuelle Fragen um richtige Ernährung, Slow Food und Artenschutz. Bätzing bleibt sehr konkret, wenn er trotz neuer Landlust von schrumpfenden Dörfern, die durch Einkaufszentren am Rand noch mehr ausgehöhlt werden, berichtet.

(Foto: DK Verlag)

Weitaus euphorischer ging der britische Farmer und Autor John Seymour (1914-2004) an die Sache heran, er avancierte zu einem Pionier einer modernen Selbstversorgung und ist noch heute für viele Stadtflüchtende eine wichtige Inspirationsquelle. Seine in den 1970er-Jahren erschienen Bücher „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“ und „Selbstversorgung aus dem Garten“ sprachen Laien und Aussteiger an, die man heute als Hipster oder Bobos bezeichnen würde. Schon früh trat er gegen eine Überproduktion und Überdüngung auf, propagierte ein Tauschsystem mit Nachbarn. „Das neue Buch vom Leben auf dem Lande“ ist nun neu aufgelegt worden, es handelt sich um eine „Selbstversorger“-Bibel, die von Tierzucht bis Bierbrauen allerlei nützliches Wissen vermittelt. Sogar für Fortgeschrittene ist einiges dabei, etwa der Bau einer Kompost- Toilette. Die Retro-Illustrationen geben dem Buch einen nostalgischen Touch, dabei ist, was Seymour vermittelt, im Grunde hochaktuell. Man staunt, wie zeitgemäß das meiste geblieben ist, vom Stadtgarten bis zum Pflanzenschutz. Toll sind auch die Zeichnungen von Obst- und Gemüsesorten. Man wird nicht alles brauchen können: Wer schert schon Schafe? Aber man schmökert gern in dem Klassiker.


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Auch Gerhard Henkel, 76, spannt in seinem gerade erneut aufgelegten Standardwerk „Das Dorf“ einen großen Bogen. Wie lebten die Menschen im Mittelalter am Land? Wie leben sie heute in Zeiten von Internet und GPS? Henkel ist Geograf und war früher Universitätsprofessor. Zudem ist er ein bekennendes „Landei“. Er wurde in den Medien schon als „deutscher Dorfpapst“ bezeichnet, an die 300 Arbeiten hat er zu diesem Thema verfasst, eine davon heißt dezidiert „Rettet das Dorf!“ Stadt und Dorf sind gleich wichtig, so seine These, wer Schulen und Kindergärten am Land schließt, gefährdet das Gleichgewicht und auch die Demokratie. Arroganz ist jedenfalls Fehl am Platz: Die Landbewohner sind die Blutspenderprofis der Nation, sie spenden zehnmal so viel wie die Großstädter. Zudem sind Selbstverantwortung und Anpackkultur am Land tief verwurzelt. Selbst Dorfbewohner sind mittlerweile Globetrotter, die über das Internet mitbekommen, was überall passiert. Sie haben sich bewusst dafür entschieden, in einem eigenen Garten zu leben.


Die Bücher:

Werner Bätzing, „Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform“ (C.H.Beck), 302 S.

John Seymour, „Das neue Buch vom Leben auf dem Lande“ (DK Verlag), Übers. v. Reinhard Ferstl, 408 S.

Gerhard Henkel, „Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute“ (wbg Theiss), 368 S.