Poetische Reisen zwischen Tradition und Moderne, Orient und Okzident. Nora Bossongs Gedichtband „Kreuzzug mit Hund“ zeigt, dass die Gattung Lyrik noch lange nicht ausgedient hat. Auch in ihrer Prosa geht sie souverän ihren Weg. Foto: Heike Huslage-Koch (CC BY-SA 4.0).


Buchkultur: Die Lyrik gilt gemeinhin als Stiefkind der Literatur, als elitär, antiquiert und unverkäuflich. Sie haben gerade Ihren dritten Gedichtband herausgebracht. Was bedeutet Ihnen die Gattung?

Bossong: Ich halte mich ja in beiden Gattungen auf, sowohl der Prosa als auch der Lyrik. Für mich geht es darum, dem Thema oder den Motiven, die mich fesseln, die ich verfolge, die richtige Form zu geben. Bestimmte Dinge lassen sich besser in Prosa fassen, und bestimmte Dinge lassen sich besser in Lyrik fassen. Mir ist natürlich bewusst, dass es in Deutschland jetzt auch nicht gerade der erste Weg zum Bestseller ist, einen Gedichtband zu schreiben. Ich spreche natürlich andere Leser an bzw. schließe bestimmte Leser aus, aber ich glaube, der Text darf darauf auch keine Rücksicht nehmen. Denn wenn man bestimmte Motive verknüpfen will, bestimmte Tiefenschichten in der Sprache suchen will, dann ist eventuell die Lyrik die bessere Form, weil sie eben so sehr darauf fokussiert sein kann. Und die ganze Handlung und was auch immer ein Roman noch mit sich bringt, breitet sich natürlich viel weiter aus. Und ich weiß auch, dass der Leser eines Romans ganz oft in erster Linie der Handlung folgt. Die Sprache ist sicherlich immer etwas, was hinzukommt oder woraus die Handlung besteht – bei den einen Autoren mehr, bei anderen weniger. Aber für mein Interesse und für mein Interesse an der Sprache und den Themen, die ich behandeln will, würde ich jetzt niemals sagen, ich schreibe keinen Gedichtband oder ich finde, das Thema ist zwar für die Poesie wunderbar umsetzbar, aber trotzdem mache ich daraus jetzt eine Reportage, damit ich Leser erreiche. Es braucht auch so ein bisschen die Leidenschaft, um den Leuten Gedichte wieder nahezubringen. Ich glaube, dass viel schon in der Schule kaputt geht. Ich weiß nicht, wie es in Österreich unterrichtet wird –, in Deutschland wird es so unterrichtet, dass man ein Gedicht eigentlich wie eine mathematische Aufgabe behandelt. Es geht nicht um den Klang, es geht um das Zählen von Hebung und Senkung, und da geht schon so viel kaputt. Ich glaube, damit würde man jedem Menschen, wenn man nach der Art und Weise unterrichten würde, auch das Lieblingsgedicht kaputt machen. Da müsste man wieder ansetzen und gucken – sicherlich wird man nie alle erreichen mit Gedichten, aber ein paar Leute mehr schon, – dass es einfach sinnlich erfahrbar ist, dass es nicht darum geht, beim ersten Hören alles zu verstehen, was dieses Gedicht ausspricht. Das Tolle an einem Gedicht ist ja auch, dass es meistens kurz ist, man kann es wieder und wieder lesen und bei jeder Lektüre etwas Neues finden. Und deswegen glaube ich, muss man den Leuten auch ein bisschen die Angst vor den Gedichten nehmen.

Gibt es denn da eine Schwellenangst beim Publikum? Wie ist es bei Lesungen: Spricht man die Zuhörer mit Lyrik nicht viel unmittelbarer an?

Das stimmt, ja, aber es müssen erst einmal die Leute zu den Lesungen kommen. Das ist sehr unterschiedlich. Ich habe ja auch mit den Romanen und dem Reportagenband unglaublich unterschiedliche Besucherzahlen. Das können drei sein, das können dreihundert sein. Bei dem letzten Reportagenband, der ja ein populäreres Thema hatte, „Rotlicht“, da gab es dann auch Lesungen, wo nur vier gekommen sind. Ich habe aber auch schon vor dreihundert damit gelesen. Das hängt immer sehr damit zusammen, wie eingesessen die Veranstaltungsreihe schon ist, wie bekannt sie schon ist und ob das Thema, das Buch, die Form zu diesem Festival passt. Die Schwellenangst wird von der einen Seite, der Spoken-Word-Szene genommen, wo Lyrik ja noch mal anders benutzt wird. Da komme ich nicht her. Ich bin schon die Buchlyrikerin. Meine Gedichte sind schon auch zum Lesen, zum Zuhören auch, aber sie sind auch zum Ruhiglesen, dazu, dass sie in einem Buch stehen und auf Papier gedruckt sind. Aber von der Spoken-Word-Szene wird den Zuhörern die Angst genommen, gerade weil es ja häufig auch kabarettistische Anteile hat, weil es einfacher ist, weil es irgendwo zwischen Rap und Unterhaltung und dann aber schon auch Spiel mit den Worten ist. Und die Angst vor der Lyrik jenseits dieser Szene, die kann am besten genommen werden, wenn man wieder mit Begeisterung von Gedichten spricht. Es geht natürlich auch um eine bestimmte Form von Verständnis, aber das poetische Verständnis ist ja ein ganz anderes als das Verständnis, das ich anwende, wenn ich einen Zeitungsartikel lese. Da geht es darum, dass ich die Information möglichst schnell, möglichst klar aus einem Artikel rausziehe. Deswegen setze ich auch in die ersten drei Zeilen die wichtigsten Informationen, und am Ende setze ich dann nochmals eine Pointe. Und das poetische Verständnis funktioniert natürlich ganz anders. Ich glaube, das Missverständnis besteht ganz oft darin, dass man mit einer Zeitungslesermentalität an ein Gedicht rangeht und dann hat man das Problem, dass man viel zu viel Zeit braucht, um diese Klarheit der Information, die vielleicht gar nicht in einem Gedicht drinnen ist, rauszuziehen. Ich glaube wirklich, dass die Begeisterung, die man für Gedichte hat, etwas ist, das Leute der Lyrik näherbringen kann, und dass es nicht darum geht, gleich eine Klassenarbeit zu schreiben. Dass es auch – weil wir gerade von Verständnis gesprochen haben –, dass es auch Unverständnis geben kann, und dass das auch ein ganz fundamentaler Teil von vielen Gedichten ist, dass erst mal auch Unverständnis bestehen darf. Vielleicht nicht über das ganze Gedicht, aber über bestimmte Passagen, bestimmte Zeilen, die geheimnisvoll sind, die erstmal ein Geheimnis bergen, dem man sich nach und nach nähert. Das hat ja etwas sehr, sehr Schönes. Wenn man in den Bereich des Sexuellen geht, wäre Pornografie das, was sofort klar zutage tritt, und Erotik ist das Spiel mit dem Verbergen und mit den Schatten, mit dem, dass nicht gleich alles enthüllt ist, und natürlich ist das aus meiner Sicht das Reizvollere als die ganz klare blanke Pornografie.

Waren Sie an allen im Buch verdichteten Orten?

Ich war fast überall. Ich gebe zu, dass ich Zypern noch nicht besucht habe. Das mit dem Besuchen ist ja so eine zweischneidige Sache. Für einen Zeitungsartikel wäre es schon gut, wenn man behauptet, dass man da war, dass man da gewesen ist. Bei einem Gedicht besucht man ja einen Ort sowieso auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Das heißt, ich kann zum Beispiel nach Sintra gereist sein, mich aber nicht in irgendeiner Weise mit der Literatur, der Kultur vor Ort auseinandergesetzt haben. Oder in den Iran kann ich gereist sein und tatsächlich nur ein Touristenprogramm absolviert haben, und dann kann ich vielleicht über die Sonne oder die Hitze oder die Wüste schreiben. Aber es geht ja um den Besuch literarischer Art, d. h. tatsächlich die Referenzen zu finden, die mit einem selbst kommunizieren – das sind sicherlich nicht alle, aber bestimmte Anknüpfungspunkte –, und ein Land oder einen Ort eben auch literarisch zu bereisen. Und in dem Sinn habe ich natürlich alle Orte besucht und manche dann eben auch noch körperlich sozusagen, mit einer tatsächlichen Anwesenheit. Aber was die großen Kapitel betrifft: Da war ich natürlich. Ich war im Iran, ich war in Israel. Das Kreuzzugskapitel, die Reise über das Mittelmeer: Da war ich vielleicht nicht exakt an allen Orten, aber natürlich ist mir diese Route vertraut, ich war ja lange in Italien. Bestimmte Orte sind mir da sehr nah, und darüber habe ich dann eben diese Reiseroute gelegt, die sich etwas frei an dieser Kreuzzugsroute orientiert.

Das titelgebende Gedicht heißt „Kreuzzug mit Hund“. Meinen Sie den historischen Kreuzzug und/oder den, der heute wieder geführt wird?

„Kreuzzug“ ist ja ein – man kann eigentlich schon fast gar nicht mehr sagen – ambivalentes Wort. Kreuzzug steht für einen eher dunklen Teil des christlichen Missionsdrangs, um es vorsichtig auszudrücken. Es war eine Bewegung, die aus realpolitischen Interessen angefangen wurde. Der Papst war aus seiner heiligen Stadt vertrieben, er war nicht in Rom, sondern saß in der Provinz in Italien, ohne wirklich Landmacht zu haben. Und was macht man dann: Dann geht man eben der Heiligen Schrift folgend dorthin, wo es noch ein bisschen heiliger ist als in Rom. Es war im Prinzip das, was man ja auch in der aktuellen, in jeder Epoche in der Politik ablesen kann: die außenpolitische Ablenkung eines innenpolitischen Zwists oder einer Bredouille. Die Kreuzzüge waren ja auch unterschiedlich – jeder Kreuzzug ist anders konnotiert –, aber natürlich haben sie das Erobernde, sie haben das „den Heiden den rechten Glauben“ bringen, Anspruch nehmend auf ein bestimmtes Land, auf eine bestimmte Region, Anspruch nehmend auf die Deutungshoheit über etwas. Und in dem Sinne ist es natürlich genau diese Auseinandersetzung mit dieser Form des Okzidents, des Westens als einer Region, die bis heute vielleicht auf eine sehr viel sanftere Art und Weise, aber doch dieses Überlegenheitsgefühl auch exportieren möchte, die Werte, die die richtigen sind. Die Gewalttätigkeit, mit der die Kreuzzüge einhergingen, fand ich auch noch sehr viel eindeutiger mit dem Christentum verbunden. Aber auch heute kann man sagen, dass die okzidentale Überlegenheitsgeste und vor allem dieser Missionsdrang, also dieses: Ich erzähle euch, wie es ist, wie es richtig ist, ihr müsst nur zuhören, ihr müsst noch missioniert werden (was ja die anderen beiden abrahamitischen Religionen nicht so haben, das ist ja wirklich einzigartig im Christentum), Europa sehr ausmacht. Es macht Europa im Guten wie im Schlechten aus, und es ist sicherlich etwas, was ganz zentral ist in der derzeitigen Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident.

Bei Ihrem Gedicht „Alte Tante Politik“ musste ich zunächst an Angela Merkel denken. Aber in Deutschland nennt man die SPD „alte Tante“.

Genau.

Die „Alte Tante Politik“ hat jedenfalls schon bessere Zeiten erlebt. „Kurzes Asyl“ nimmt ebenfalls auf unsere aktuelle Situation Bezug. Europa ist nach rechts gerückt. Aktuellen Umfragen zufolge hat in Deutschland die rechtspopulistische AfD erstmals die SPD überholt. Viele meinen, der Aufstieg der Rechten sei eine Folge der Flüchtlingspolitik.

Es fängt ja schon mit dem Wortgebrauch an, dass man von „Flüchtlingskrise“ redet, nicht von einer Krise des Umgangs damit. Die Flüchtlinge sind ja erst einmal nicht die Krise, sondern es ist eine Krise, die wir im Nahen Osten haben, in Syrien, die Menschen dazu bringt, aus ihrer Heimat zu fliehen. Und das ist etwas, was normal ist. Kriege sollten nicht normal sein, leider sind sie es. Ich will nicht sagen, dass man in Deutschland und Österreich noch einmal eine größere Verantwortung hat als im restlichen Europa. Aber ich würde sagen, dass wir insgesamt als Europa eine immens große Verantwortung haben, denn Europa war so oft Grund und Zündung von Kriegen. Es ist eine Region des Wohlstands, eines Wohlstands, der sich aus für Europa sehr vorteilhaften Beziehungen zu anderen Ländern speist, man könnte auch von Ausbeutung teilweise reden. Und die Nicht-Intervention in Syrien bzw. das diplomatische Patt in Syrien ist auch Teil einer europäischen Außenpolitik. Das heißt, es gibt aus meiner Sicht eine ganz normale humanitäre und humane Verantwortung, es gibt das Genfer Flüchtlingsabkommen, es gibt alles, was auch gerade nach dem Zweiten Weltkrieg erstmal gelegt wurde an Grundsätzen. Und da einfach drüber hinwegzugehen bzw. Angst zu schüren –, die ja, wie das bei Angst ganz oft der Fall ist, in keinem Verhältnis steht. Das ist etwas, was Angst allgemein hat. Ich weiß, als ich mal auf eine Diagnose vom Arzt gewartet habe, war die Angst in keinem Verhältnis zu der Wahrscheinlichkeit, dass ich eine schlechte Diagnose bekomme, aber ich konnte gar nicht mehr schlafen. Wir wissen alle, dass Angst sehr schnell verhältnislos wird. Das macht es natürlich sehr, sehr einfach zu instrumentalisieren für politische Zwecke. Und das ist es, was passiert. Natürlich geht es auch darum, auf europäischen Level die Frage der Verteilung von Migranten zu klären, sicherlich auch von Registrierung, von Integration usw. Das sind alles Fragen, die man stellen kann und stellen muss. Aber was derzeit passiert, ist, dass die wirklichen konstruktiven Fragen ja kaum noch gestellt werden, sondern dass dieses große Wort der „Flüchtlingskrise“, das Bild des „bösen Migranten“ – wenn man 50 Migranten hat, sind ja mindestens 25 von denen Terroristen –, das steht ja wirklich in überhaupt keinem Verhältnis. Schon gar nicht, wenn man sich anschaut, was britisches und amerikanisches Militär im Irak angerichtet haben. Aber so weit muss man ja nicht einmal gehen. Es geht einfach erst einmal darum, dass die aller-, aller-, allermeisten Menschen, die hier ankommen, Schutzsuchende sind aus einer Notsituation, die Angst um ihr Leben haben, die keine Perspektive haben, und mit diesen Menschen, mit den „most vulnerable“, den verwundbarsten, angreifbarsten Menschen so eine Politik zu betreiben, ist, finde ich, grauenhaft. Es ist eine absolute Ignoranz gegenüber der Geschichte. Und damit meine ich nicht, was gerade derzeit sehr gerne gemacht wird, den Vergleich des Endes der Zwanziger, Anfangs der 30-er Jahre in Europa mit der Jetztzeit. Ich bin mit historischen Vergleichen in dem Sinne vorsichtig. Aber die direkte Nachkriegszeit hat juristisch und politisch, völkerrechtlich bestimmte Grundsätze geschaffen, gerade aus der Erfahrung dessen, was passiert ist. Und dass man diese Dinge jetzt vielleicht nicht komplett über Bord wirft, aber relativiert und zu einem Schreckensszenario macht, das ist einfach bestürzend.

Auch der Irak-Krieg wurde ja, schon rein rhetorisch gesehen, als eine Art „Kreuzzug“ geführt.

Genau. Das, was in der amerikanischen Politik wieder aufkam, war das Sprechen vom Bösen, vom „evil“, „war against evil“, und diese klassische Verwendung des Begriffs des Bösen geht natürlich ganz weit zurück. Die amerikanische Politik war nie so sehr losgelöst von christlichen Motiven. Frankreich ist auch sehr katholisch, aber es versucht ja, laizistisch zu sein, und es versucht eine Trennung zwischen Kirche und politischen Institutionen deutlich zu machen, auch wenn es in der Sprache vielleicht Überschneidungen geben mag. Aber diese Verbindung von Politik und Religion ist ja in den USA noch viel, viel präsenter – und dann eben wieder diese Worte des „evil“ ins Gespräch zu bringen. Vorher gab es auch schon einmal die „Achse des Bösen“.

Um auf Ihren Gedichtband zurückzukommen: Könnten Sie von Lyrik allein leben?

Das ist immer so eine Frage, welche Ansprüche man hat. Also sagen wir mal: Ich würde es jetzt nicht ausprobieren. Man könnte es wahrscheinlich, wenn man wirklich jedes Aufenthaltsstipendium, das angeboten wird oder auf das man sich bewerben kann, annimmt, wenn man bescheiden lebt, wenn man keine großen Reisen machen muss oder machen will, dann geht es. Es geht besser als man denkt. Ich mache ja Journalistisches und Romane und Lyrik, d. h., es verteilt sich über ganz viel. Aber die Lyrik ist gar nicht mal so ein ganz kleiner Anteil. Man hat Lesungen, es wird, offen gesagt, gerne gefördert, weil es als schützenswerte Gattung gilt. Ich glaube, dass sich Leute auch gerne damit schmücken, es ist dann ökonomisch nicht so einträglich, aber es geht mehr in die Richtung von Kunst, da wird es ja auch oft als Statussymbol gesehen. Kunst wird mittlerweile auch als Aktienersatz oder als Realaktie gesehen, als Investition in die Zukunft, man kauft sich zum Beispiel ein Bild von Neo Rauch. Ganz so funktioniert es bei der Lyrik nicht, aber ich glaube, dass es dadurch, dass es normalerweise einen kleinen Kreis an Lesern hat, auch etwas hat, was etwas Besonderes behält. Und dadurch, dass es in den allermeisten Fällen nicht über die Verkaufszahlen funktioniert, mehr Freiheiten lässt. Und das kann dann so manchmal auch sogar im Gegenzug wieder mehr Leute ansprechen. Gerade, dass man sich die Freiheit nimmt, nicht an irgendeine Lesergruppe zu denken oder zu denken, jetzt muss ich hier noch den Plot aufklären, in Kapitel drei muss jetzt noch etwas passieren, damit die Spannung erhalten bleibt, also dadurch, dass man sich wirklich ganz den Texten hingeben kann und die Texte so klingen lassen kann, wie sie für einen selbst richtig klingen, dadurch kann man vielleicht am Ende sogar wieder mehr Leute ansprechen, weil es eben dadurch etwas sehr Ehrliches hat und etwas sehr in sich Ruhendes vielleicht auch. Ich lese sehr viele Gedichte, deswegen ist es für mich komisch, dass so wenige Leute das lesen. Denn eigentlich sind wir in Zeiten, in denen sehr viele Menschen nur noch kleine Artikel lesen, kurze Artikel, und Gedichte sind eigentlich ganz ideal dafür. Das ist das, was man so zwischen zwei U-Bahn-Stationen lesen kann. Das ist das, was man in den drei Minuten, in denen man auf den Bus wartet, lesen kann. Das, was auch gut auf ein Smartphone passt usw. Es ist eigentlich seltsam. Es würde eigentlich sehr gut zu unserer Lesekultur passen, wenn man das still-ruhige, kontemplative Lesen tatsächlich hinzurechnen würde. Ein Gedicht liest man natürlich nicht wie eine Twitter-Meldung. Es ist nicht auf Effekt und auf Skandal, auf den großen Knall aus, sondern es ist sehr viel leiser, es will eigentlich in eine kontemplative Richtung wahrscheinlich. Aber eigentlich passt es sehr gut in unsere Zeit, und es ist auch genau dieser Ausgleich – alle sind komplett verspannt, rennen ständig zur Massage –, und eigentlich wäre es eine sehr gute Form des Lesens, die extrem gut passen würde. Vielleicht müssen die Leute das noch mehr rauskriegen.

Sind Sie mit der Literaturförderung, die es für Lyrik gibt, zufrieden? Wird genug getan?

Ich habe ja auch in Italien gelebt, da gibt so gut wie gar keine Literaturförderung. Ich glaube, da wird alles Geld ins Pantheon gesteckt oder ins Kolosseum. In Deutschland sehe ich eher das Problem, dass es sehr viel Förderungsmöglichkeiten für den Beginn gibt, und das wiegt Leute teilweise in falscher Sicherheit. Es gibt sehr viele Stipendien für das erste Buch oder bevor das erste Buch erschienen ist, dann gibt es extrem viele Preise für das Debüt – ich weiß gar nicht, wie viele –, und dann, ab dem zweiten Buch, wird es schwierig. Das erlebe ich auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen. Bei Kolleginnen noch mehr, zumindest, wenn dann Kinder kommen. Trotz allen Herbeiredens der Emanzipation wird es bei Frauen mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie dann noch mal schwieriger. Und dann wird es viel schwieriger, weil es diese Anschubsachen nicht mehr gibt. Der Blick ist sehr stark jung und neu gerichtet, und das finde ich hochproblematisch. Denn mit 25 oder auch 35, jedenfalls in dem Alter, kann man sich auch entscheiden: O.k., ich mache das, Schreiben, aber ich mache das nicht hauptberuflich. Wenn ihnen dann aber so viele Rosen ausgelegt werden, dass sie denken, oh, das reicht ja, bis ich 85 bin, wenn das so weiter geht und dann wird es ja wahrscheinlich nur noch besser, weil ich bin ja gerade noch am Anfang, dann gehen viele, ich will nicht sagen ein Risiko ein – man darf für Literatur immer ein Risiko eingehen, man darf auch ein ökonomisches und ein Risiko im Lebensweg eingehen –, aber man muss wissen, welches man eingeht. Wenn dann am Anfang das so rüber kommt: Super, ich bin gerade mit dem Studium fertig, das ist auf jeden Fall mehr Geld als ich im Studium hatte, das läuft ja gut an, und dann verlässt man sich darauf, dass man darauf eine Existenz gründen kann, da wachen manche sehr ungut daraus auf, und dann ist es eventuell auch zu spät, um noch einen anderen Beruf, der zum Broterwerb mehr ist als ein Job, zu ergreifen. Und das finde ich einfach etwas problematisch. Und umgekehrt – in der Falle bin ich momentan nicht, aber irgendwann komme ich da vielleicht auch hin: Es wird sehr wenig getan für ältere Autoren. Man verdient ja sehr viel Geld durch Lesungen. Wenn man das nicht mehr machen kann, oder wenn man auch nicht mehr so viel gebucht wird, weil man vielleicht eine arrivierte Autorin oder ein arrivierter Autor ist, aber nicht mehr so das Spritzige hat, was die Dreißigjährigen haben, und dann bei bestimmten Festivals einfach nicht ins Programm passt, dann wird es schwierig. Die Vorstellung, dass man mit jedem Buch mehr Exemplare verkauft, das stimmt ja nicht, sondern sehr viele haben dann mal vielleicht mal ein Buch, das sie irgendwie rausreißt, aber pendeln sich dann in so einer Verkaufsgröße ein, die auf jeden Fall nicht komplett reicht, um die nächsten drei Jahre mit einem Roman zu verbringen. Da ist so ein bisschen ein zu großes Augenmerk auf das Neue und Junge, weil es auch immer aufregend ist, alles Neue ist spannend. Aber es gibt so wenig Blick dafür, dass es auch Autoren gibt, die absolut arriviert sind und die große Verdienste geleistet haben, aber die trotzdem, vielleicht auch, weil sie hauptsächlich Lyrik schreiben oder ganz sperrige Form der Prosa, oder nicht reisen können und auf Lesungseinahmen verzichten müssen, dass dadurch auch eine gewisse Altersarmut grassiert. Die 28-jährigen können immer noch sagen: Wenn mir das Geld nicht reicht, dann hänge ich noch eine Promotion an oder ich bewerbe mich auf irgendeine Stelle. Aber mit 68 ist das dann auch schwieriger.

Der große H. C. Artmann lebte am Existenzminimum.

Ja, genau, es sind eben zum Teil wirklich sehr hochhonorierte Autorenpersönlichkeiten, aber das bedeutet nicht, dass dadurch das Geld genauso reinfließt. Es ist sehr schön, dass sehr viel gefördert wird. Ich finde, dass es in Deutschland momentan – hoffentlich geht es so weiter –, sehr gut ist. Mehr kann es immer geben, aber ich finde erstmal, dass es wirklich ganz gut aussieht und eigentlich recht paradiesische Verhältnisse sind. Aber, wie gesagt, die Jungen werden ein bisschen sehr viel übergossen. Und auch da muss man ja erst einmal schauen. Es ist ja auch nicht jeder, der an einem Buchmanuskript schreibt oder dann auch ein Buch gemacht hat, wirklich Schriftstellerpersönlichkeit. Dazu gehört ja mehr, als 150 Seiten fertig zu schreiben, sondern die tatsächliche Schriftstellerbiografie ist ja doch eine, die sich erst über Jahre oder vielleicht Jahrzehnte zeigt.

Sie sind Mitglied des PEN-Zentrum Deutschland. Hat Kunst, hat Literatur die Verpflichtung, sich politisch einzumischen, zu verstören, Stellung zu beziehen?

Literatur hat eigentlich keine Verpflichtung. Es ist der Autor oder die Autorin, die sich verpflichtet fühlt. Und da würde ich sagen, dass jeder – ich gehe von einem Verantwortungs- und in dem Sinne auch Verpflichtungsbegriff aus, den ich eigentlich jedem Bürger, jedem Menschen nahelegen würde –, mit dem antwortet, was er kann und auf die Art und Weise, die er oder sie benutzt und beherrscht. Von dem ausgehend würde ich sagen, dass ich als Bürgerin verpflichtet bin, irgendwie Stellung zu beziehen. Ob ich das mit meiner Literatur mache oder ob ich das auf ganz andere Art und Weise mache, das muss jeder für sich entscheiden. Wenn Literatur nur noch pädagogisch-politisch sein will, wird die Halbwertszeit kürzer, dann kann es leicht etwas Abgeschmacktes haben. Bestimmte politische Gedichte der 68-er-Zeit – ich kann sie natürlich noch lesen, aber es ist so ein bisschen wie ein Witz mit einer zu albernen Pointe oder man kommt nicht mehr drauf. Aber das, was Literatur kann, das sind ganz viele Sachen: den Horizont erweitern, natürlich verstören, natürlich Leute erstmal aus dem ewig gleichen Trott bringen, natürlich den Fokus auf Sprache und auch auf die Verwendung von Sprache zu richten, eine Sensibilität für Sprache, aber durch die Sprache auch für die Gedanken und für die Lebenswirklichkeiten und -welten von anderen Menschen und für die Unterschiedlichkeiten der Blickwinkel zu schaffen. Das ist etwas, was Literatur, ob sie sich nun per se politisch nennt oder nicht, hat und kann. Natürlich ist auch die Gefahr, dass es auch, sagen wir mal, die andere Seite, die Seite, der ich jetzt nicht so zugeneigt bin, ebenso benutzen kann. Und natürlich kann ein rechtsradikaler Autor, der sprachlich extrem versiert ist, unglaubliche Möglichkeiten entfalten und auch Verführungsmöglichkeiten. Die hat ja Sprache auch, und das weiß man ja nicht zuletzt aus der Zeit des Dritten Reichs, wie mit Sprache verführt wurde. Aber genau da kann die Sprache ja ansetzen als kritisches Instrumentarium, als etwas, was auch historisch hinterfragt, was auseinandernimmt, was beleuchtet, und ich glaube, das ist schon die Aufgabe der Sprache oder einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Sprache. Wenn ich jetzt nur noch rosarote Geschichten erzähle – das kann man auch machen, es würde mich nur weder interessieren zu lesen, noch würde es mich interessieren zu schreiben.

Sie haben einen Roman über den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci geschrieben. Im zweiten Erzählstrang geht es um den Gramsci-Forscher Anton Stöver, der gegenüber Gramsci deutlich abstinkt: Er ist ein Macho, auch als Wissenschaftler keine besondere Leuchte. Er scheint mir fast symptomatisch für die Krise der Linken zu stehen.

Gramsci ist gerade in der gegenwärtigen Rezeption unglaublich spannend. Gramsci ist ohnehin spannend, aber auch die Rezeption ist spannend. Auf einer Lesung mit dem Roman hat mir jemand einen Artikel aus der „Zeit“ von 1991 geschenkt, in dem stand: Was kann die Partei von Björn Engholm, also was können die Sozialdemokraten, von Antonio Gramsci lernen. Man könnte diesen Artikel im Prinzip in diesem Jahr nochmal abdrucken, es hat sich nichts geändert. Es sind bestimmte Aspekte, die Gramsci schon vorausgedacht hat: Europa der Regionen zum Beispiel könnte man wunderbar mit Gramsci durchdenken, kulturelle Hegemonie ist sowieso ein großes Schlagwort. Da scheint mir, dass die deutschen Sozialdemokraten doch sehr viel Zeit damit verbringen, sich um sich selbst zu drehen und intellektuell nicht mehr in die Tiefe gehen. Das muss nicht jeder Bundestagsabgeordnete machen. Aber ich glaube, dass es jeder Partei und jeder politischen Strömung guttut, wenn sie ein paar wirklich gute Intellektuelle hat. Und das sehe ich bei den Sozialdemokraten, das sehe ich bei vielen Parteien nicht. Ich bin auch sehr für pragmatische Politik. Ich bin gar nicht so eine ganz romantische Idealistin. Aber ich glaube, die Mischung muss da sein. Und das, was dann bei der Rezeption von Gramsci sehr interessant ist, ist, dass die Identitären sich ganz stark auf ihn beziehen. Die Identitären sind ja in Österreich, soweit ich weiß, noch stärker als in Deutschland, da sind die noch so ein kleines Grüppchen, aber die machen genau das. Die haben nämlich intellektuelle Köpfe, die durchdenken etwas sehr viel tiefer und nicht nur tagespolitisch. Aus meiner Sicht sind das ganz klar Revolutionäre, die wollen den gesellschaftlichen Umsturz und die lernen extrem gut von Antonio Gramsci. Die Linke ist ja auch sehr unterschiedlich. Die 68-er waren ja auch nicht alle Hausbesetzer, da gab es ja sehr unterschiedliche Radikalitätsstufen. Aber zumindest gab es – ich war nicht dabei, aber wie es scheint, im vielleicht verklärten Rückblick –, gab es doch den Streit um intellektuelle Positionen. Das mag auch mit dem, was an den Universitäten gelehrt wird, zu tun haben, wo man fast nur noch analytische Philosophie betreibt. Derrida war vielleicht so der letzte, oder die Französischen Dekonstruktivisten und Strukturalisten die letzten, wo man von links einen politischen Ansatz verfolgt hat. Aber analytische Philosophie ist tatsächlich, finde ich, schwierig zu vereinbaren mit Kapitalismuskritik. Mir fehlt bei der Politik derzeit, bei linker Politik, die Tiefe und auch der Horizont, das utopische Denken dann am Ende. Man guckt vielleicht ins nächste Jahr, aber man guckt nicht so weit, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, auch mit dem Wissen, dass sie so nie aussehen wird. Aber wenn man nicht eine bestimmte Vorstellung von einer besseren Zukunft hat, dann kann man eigentlich nur scheitern, weil man erstens nichts anzubieten hat als Idee, und wenn ich zweitens eine Vorstellung davon habe, wo ich hinwill, dann weiß ich zumindest erst mal die Richtung, und dann mag ich auch scheitern, ich mag das nicht zu hundert Prozent erzielen. Aber wenn ich sechzig Prozent davon erziele, ist das ja mehr, als wenn ich hundert Prozent von gar nichts erreicht habe. Und ich denke, das ist problematisch, und das ist natürlich etwas, was sicherlich auch mit dem Ende des Kalten Kriegs zu tun hat, wo man plötzlich gar nicht mehr weiß, wogegen oder wofür man war. Ja, aus meiner Sicht scheint tatsächlich der Mut zum Denken über die Tagespolitik hinaus zu fehlen. Und das kriegen die radikal Rechten zum Teil sehr, sehr viel besser hin. Deswegen sind sie, glaube ich, auch zum Teil sehr stark. Nicht nur, weil sie populistisch agieren, sondern weil es Gruppierungen bei den Rechten gibt, die intellektuell einfach stärker sind und schneller lernen und auch gnadenloser sich ihr Wissen aus allen Bereichen zusammensuchen, also wie gesagt: beim linken Revolutionär nicht zurückschrecken.

Und was Ihre andere Frage zu Anton Stöver betrifft: Dieser Stöver ist ja kein per se Linker, er ist auch nicht so rechts, aber natürlich hat er, sagen wir mal, einen Narzissmus, der mit Donald Trump vergleichbar ist. Er ist zu ungeschickt, um jemals in die Position zu kommen, das ist vielleicht noch das Beste an ihm oder das Sympathischste, dass es ihm nicht gelingen würde, in eine hohe Position zu kommen – wie der über seine eigenen Schnürsenkel stolpert. Aber er ist eigentlich jemand, und das mag vielleicht auch etwas aussagen, er ist eigentlich jemand, der überhaupt keine Ideale mehr hat, der keine Richtung, keinen Kompass mehr hat. Er ist weder links noch rechts, er ist nur noch um sich selbst drehend, nur noch auf sich selbst fokussiert, und alles, was ihn an Gramsci interessiert, ist er selbst. Auch da geht er natürlich nicht in einem empathischen oder auch in einem emphatischen Sinne einer politischen Idee nach, einer politischen Hoffnung, sondern das ist alles im Hier und Jetzt, alles im Leben von Anton Stöver ist Anton Stöver. Das ist natürlich überzeichnet, aber wenn ich mich umschaue, sehe ich auch teilweise den krassen Rückzug ins Private, der manchmal dann ja noch politisch erklärt wird: Na ja, jetzt bauen wir Ökokarotten an, und das ist doch viel besser, als mich jetzt in einer politischen Partei zu engagieren. Ich erlebe zumindest, dass sich zum Teil sehr um die eigene Scholle gedreht wird, sehr geguckt wird, wo geht es mit meiner Karriere hin, wo geht es mit meiner Familie hin, ist das Kind auf der richtigen Schule, und lernt es auch wirklich schon früh genug Englisch, damit es dann später im internationalen Wettbewerb mithalten kann. Da ist es schön, wenn man sich dann noch irgendwo ein Plakat gegen den Kapitalismus und für ein neues System aufhängt, aber man läuft ja dem ganzen System komplett hinterher. Und das nimmt den Raum für wirklich politische Ideen. In dem Sinne ist jemand wie Stöver dann schon stellvertretend, wenn auch überzeichnet. Und die Art und Weise, wie er Frauen betrachtet: Als ich es geschrieben habe, schien es mir sehr aus der Zeit gefallen zu sein. Das, was mir zu Stöver einfiel, ist, dass er zwar zu Antonio Gramsci arbeitet, der hundert Jahre älter ist als er, aber er selbst hängt eigentlich bestimmten Weltanschauungen an, die älter sind als Gramsci. Also war Gramsci moderner als er – so eine komische Verdrehung. Leider muss ich sagen, dass es mittlerweile ja wirklich teilweise einen radikalen Rollback gibt. Um jetzt nochmals auf Donald Trump zu kommen: Was der für Sprüche rauslässt, dass das einfach so durchgeht. Aber auf ihn kann man ja immer leicht schauen, weil es einfach unfassbar ist, wie er sich verhält. Aber es gibt ja die etwas leiseren Töne. Und auch da sehe ich ein Rollback gerade in Fragen des Feminismus und der Emanzipation, nicht nur von Männern getragen – das sexistische Reden und das schonungslose Überlegenheitsgefühl spielen natürlich rein –, aber auch von Frauen, die sich von vornherein zurücknehmen, die gar nicht in bestimmte Rollen hineinwollen, die sagen, warum soll ich denn promovieren, das hat mir zwar mein Professor nahegelegt, aber ich will ja gar nicht so hoch hinaus. Das ist natürlich jedem selbst überlassen. Ich will jetzt nicht jede Frau zwingen, sofort Professorin zu werden oder in den Aufsichtsrat zu gehen. Aber ich habe das Gefühl, dass in der Generation meiner Eltern und in der Generation dazwischen, die so in den späten Sechzigern geboren ist, dass es da fast mehr Selbstbewusstsein gab, dass man sich nicht von seinem Geschlecht vorschreiben muss, welche Rolle man zu übernehmen hat, als es jetzt der Fall ist. Ich erlebe das zumindest so, ich erlebe das so in meinem Umfeld. Und das finde ich ernüchternd. Und da bin ich eben nicht unbedingt nur von den Männern enttäuscht, sondern ich denke, dass da auch dann wirklich beide Geschlechter dazu gehören, und es hat offensichtlich einen großen, großen Reiz oder eine große Gefälligkeit, diese alten Rollenmodelle doch wiederzubeleben. Und manchmal bin ich wirklich wütend. Ein Freund von mir, der am Theater arbeitet, redet immer groß von Emanzipation. Er hat zwei Kinder und ist jedes zweite Wochenende an einem Sonntag zuhause und kümmert sich um die Kinder. Ich weiß nicht, wie er auf den Begriff Emanzipation innerhalb einer Beziehung kommt, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass eine Frau sich auch nur jede zweite Woche einen Sonntag lang um die Kinder kümmert und die restlichen zwölf Tage der Heilige Geist auf die Kinder aufpasst. Aber es ist mir wirklich ein Rätsel, diese Blindheit. Das ist jemand, der sehr, sehr erfolgreich ist, sich sehr, sehr links nennt und auch in vielen Punkten extrem links ist, also noch viel weiter links als ich. Aber in dem Punkt fällt mir wirklich die Kinnlade runter. Man kann ja dieses Modell haben, man muss es dann aber auch so benennen. Und wenn man es dann ein emanzipiertes Modell nennt, dann möchte ich nicht wissen, was bei ihm ein unemanzipiertes Modell wäre. Also, da krieg ich dann Angst.

Es ist ein Phänomen, dass kaum, dass Kinder da sind, sogar junge Paare in die alten Muster zurückfallen.

Ja, und dabei gibt es ja – ich weiß nicht, wie die Elternzeit in Österreich aufgeteilt ist –, aber zumindest in Deutschland staatlicherseits Ermutigung, dass Männer Elternzeit übernehmen. Ich habe einen Cousin, der in der Schweiz lebt. Da gibt es überhaupt keine Elternzeit für Väter, die müssen sofort wieder arbeiten, die kriegen zwei Tage frei oder so – die Schweizer haben auch das Frauenwahlrecht nicht gerade erfunden. Und das finde ich wirklich erstaunlich, denn wenn ich mir anschaue, wie ich oder auch meine Klassenkameradinnen aufgewachsen sind: Klar, gab es tendenziell noch konventionelle Rollenmodelle, aber sie waren gerade im Umbruch und es wurde auch von weiblicher Seite erkämpft, dass die Männer mehr übernehmen, dass man das alles hinterfragt, dass sich das ändert. Und das schien im Umbruch zu sein. Und was jetzt passiert, ist, dass man sich einfach wieder komplett zurückzieht in das alte Modell. Die Aussage: Na ja, direkt nach der Geburt, da ist einfach die Bindung zur Mutter enger als zum Vater – die wird dann auf zwölf Jahre ausgeweitet. Es hat sicherlich auch mit dem Arbeitsmarkt zu tun, der größere Unsicherheiten hat, der zum Teil sehr auslaugend ist. Aber es hat, glaube ich, auch etwas damit zu tun, dass meine Generation mit so einem Gefühl „Ihr könnt alles, ihr dürft alles, alles ist miteinander vereinbar und alles ist möglich“ aufgewachsen ist und vielleicht in manchen Dingen zu wenig rebellieren musste, zu wenig sich durchsetzen musste, und jetzt den Weg des geringsten Widerstands geht. Und der ist tatsächlich dann wahrscheinlich doch wieder der zurück zu diesem Modell, weil der Mann sich dann nicht von seinen Kollegen anhören muss, warum er nach der Geburt so lange fehlt, warum er so lange aus dem Beruf ausschert, weil die Frau sich nicht anhören muss, dass sie eine Rabenmutter ist, weil sie nach einem halben Jahr sich das mit dem Mann teilt oder auch einfach wieder berufstätig ist. Diese ganzen gesellschaftlichen Widerstände sind dann eventuell schon zu viel, weil man mit dem Glauben aufwächst, dass alles geht, dass alles auch ohne Widerstand möglich sein muss.

Der Druck unter Müttern ist hoch. Kinder sind Projekte: Am besten, sie lernen schon im Mutterleib fünf Fremdsprachen.

Ja, genau, sie werden mit ostasiatischen Klängen und Japanischvokabeln beschallt. Kinder sind ja nicht mehr etwas, was irgendwie passiert, was geboren wird, was auf die Welt kommt, wie das so über Jahrtausende passiert ist, sondern sind eben auch so ein Erfolgsprojekt. Da ist dieses Projekt: Wir haben jetzt ein Kind, und in diesem Projekt müssen wir auch ganz erfolgreich sein, neben allem anderen, wo wir auch ganz erfolgreich sein müssen. Und da ist tatsächlich, glaube ich, der Druck, der unter Frauen aufgebaut wird, extrem hoch. Jedes Kind muss besser sein, und vor allem die Mutter muss auch besser sein, und wenn dann einmal ein Blick nicht sofort beim Kind ist, dann sind das schon drei Punkte Abzug in der Bewertung der Besten. Da müssen sich Frauen auch einfach klar werden, dass es natürlich immer mit Machtdiskursen zu tun hat. Dass man in dem Moment, in dem man sich komplett in diese Rolle zurückzieht, man einen bestimmten Austritt aus Einmischungs- oder gesellschaftlichen Einmischungsmöglichkeiten hat, der sicherlich auch von bestimmten Seiten gewollt ist. Und man spielt da einfach so mit und gibt etwas, das lange erkämpft wurde, dann doch relativ schnell wieder auf, weil Vorzugsmilch dann unbedingt hundertprozentig Bio sein muss und man das noch dreimal kontrollieren muss.

Ihr Roman „Webers Protokoll“ handelt von einem deutschen Diplomaten, der Juden nur aus Eigennutz gegen Geld hilft. Und im Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ geht es um Aufstieg und Fall eines deutschen Frotteeimperiums, das an beiden Weltkriegen profitiert hat. Sie sind die dritte Generation, die sich mit der NS-Zeit befasst. Gab es in Ihrer Familie Verstrickungen?

Das mit den Verstrickungen ist natürlich schwer zu sagen. Wie wahrscheinlich in den meisten Familien wurde wenig darüber geredet. Meine Großeltern mütterlicherseits sind beide 1926 geboren, sie waren sehr jung zu der Zeit. Das war so diese klassische Generation Grass, Siegfried Lenz – jetzt gerade in der Diskussionsdebatte über Siegfried Lenz‘ „Deutschstunde“. Väterlicherseits waren sie ein bisschen älter, dadurch schon volljährig, die habe ich aber beide nie kennengelernt, d. h. da weiß ich nur Gerüchte. Die Gerüchte sind mal so, dass mein Großvater tatsächlich geholfen hat, Juden zu retten. Und mal so, dass er sich das am Ende noch hat schreiben lassen, um den Persilschein zu bekommen. Es geht so in beide Richtungen, es ist aber tatsächlich beides möglich. Es ist durchaus möglich, dass er auch tatsächlich im Widerstand war, nicht im offenen Widerstand, aber tatsächlich Menschen gerettet hat. Ich habe sogar Belege dafür, aber ob diese Belege nun echt sind oder ob man sich die von Bekannten hat schreiben lassen – das ist alles so eine große Frage. Aber es ist im Bereich des Glaubwürdigen, weil es auch Belege gibt. Und was meine Großeltern mütterlicherseits betrifft, mit denen ich viel enger bin: Das ist das, was die dritte Generation oft erlebt, dass sie mit ihren Kindern gar nicht darüber geredet haben, schon gar nicht in dem Moment, wo die Kinder angefangen haben, Fragen zu stellen, sich bei den Enkelkindern aber ein bisschen freier fühlen. Da ist der Abstand größer, da liegt die Schuldfrage weiter zurück, auch die ganz innerfamiliären Konflikte – mit den Eltern hat man immer andere Konflikte als mit den Großeltern, noch heftigere als mit den Großeltern. Und ich erinnere mich, dass meine Großeltern mir beide relativ frei erzählt haben. Das hörte in dem Moment auf, als ich die erste Frage stellte. In dem Moment, als sie merkten, sie erzählen das hier nicht in eine Black Box, sie erzählen das nicht einfach so ins Off hinein, sondern da hört tatsächlich jemand zu – da haben sie sofort aufgehört zu reden. Das ist das, was sicherlich die gesamte Gesellschaft prägt: dieses Nicht-Aussprechen, kaputte Verhältnisse, die auch über das Politische kaputt gegangen sind, die Erziehung dieser Kinder in HJ und BDM, dieses Heranziehen zu Nazis, zu Wesen, die allein dem Führer gehorchen sollen. Natürlich ist das nicht komplett weg, wenn der Krieg zu Ende ist und wenn es einen Regimewechsel gibt. Und auch da kann man ja hinterfragen, wie nationalsozialistisch die Adenauer-Zeit noch war. Ich denke, dass das ganz gravierend innerhalb von Familien noch anwesend ist und dass bestimmte Beziehungen deswegen schwierig sind, eingefroren sind, kaputt sind, hochproblematisch sind wegen dieser gesamten niemals aufgearbeiteten Vergangenheit. Man hat sie in der Öffentlichkeit thematisiert. Aber dieses Sprechen von Bewältigung – Vergangenheit bewältigen –, finde ich sehr schwierig. Man kann sich mit ihr auseinandersetzen, sich mit ihr in Bezug setzen, aber bewältigen – das ist natürlich unmöglich. Aber daher kommt dieses Interesse, aber auch dieses Nichtwissen. Als meine Großmutter gestorben ist, war ich gerade beim Auschwitz-Prozess in Lüneburg, wo Oskar Gröning verurteilt wurde. Aufgrund neuer juristischer Herangehensweisen werden beim Genozid auch die Mittäter, und wenn sie auch nur ein ganz kleines Rädchen im Getriebe waren, verurteilt. Es gibt so Fakten im Andenken an meine Großmutter, die nicht stimmen. Sie hat in einem Ort gewohnt, den es einmal in Thüringen gibt und einmal in Polen. Angeblich hat sie in Thüringen gelebt, was aber de facto nicht stimmte. Das wurde bis zu ihrem Tod in der Familie falsch wiedergegeben, obwohl eigentlich jeder, wenn man nur einmal hingeschaut hat, gewusst hat, dass das Polen war. Warum wollte man nicht glauben, dass das Polen war und warum ist das jetzt problematisch – das sind ja alles diese Fragen und dieses Nicht-Ausgesprochene, das zum einen die Geschichte beklickert, aber auch zwischenmenschliche Beziehungen kaputt macht, was die ewige Schuldfrage nie zu einer Klärung bringt, sondern immer in neue Aggressionen, neue Ängste, in neues Verschütten-lassen, Überdecken, in ein Sich-selbst-Belügen und Andere-Belügen übergeht. Von daher ist das noch sehr lebendig, ich würde sagen, extrem lebendig.

Im Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ schildern Sie familiäre, Generationen übergreifende unternehmerische Zwänge. Auch heute leben wir in einer Zeit der Zwänge. Kinder sollen schon im Mutterleib wettbewerbsfähig gemacht werden für einen immer härter werdenden Arbeitsmarkt.

Ich bin schon vorsichtig, weil ich gleichzeitig dann auch in so vielen Ländern gewesen bin, in denen sich die Menschen wünschen würden, die Freiheiten, die wir Freiheiten nennen, auch zu haben. Es ist schon noch einmal etwas anderes, ob ich im Iran oder in China bin. Was dürfte ich dort als Schriftstellerin schreiben, wie dürfte ich mich als Frau verhalten, wie konträr zu einer politischen Meinung dürfte ich sein? Es gibt natürlich bestimmte Zwänge und dem postkapitalistischen System liegt ein bestimmtes Menschenbild zugrunde, dem wir uns möglichst anpassen. Der Druck, den es früher vielleicht von außen gab, wird internalisiert und dadurch natürlich noch viel perfider. Gegen sich selbst kann man immer schwieriger rebellieren als gegen den strengen Lehrer oder den strengen Vater oder den strengen Chef. Das sehe ich alles so, und das ist ja auch das, worum es in dem Tietjen-Roman auch geht und wie es sich dann familiär aufteilt. Trotzdem möchte ich nicht ganz vergessen, dass das, was wir schon demokratisch auch noch haben – obwohl das alles gerade ziemlich am Wackeln ist, in anderen europäischen Ländern ja noch mehr –, dass es immer noch ein unglaubliches Geschenk ist. Es sollte selbstverständlich sein. Aber es ist nicht überall selbstverständlich, dass wir konträre Meinungen äußern können, dass wir uns ganz deutlich gegen die Menschen an der Macht äußern dürfen, dass wir das öffentlich tun dürfen, dass wir das laut tun dürfen, dass wir dafür Publikationsmöglichkeiten haben – das ist für mich schon eine grundlegende Freiheit. Und die darf man nicht übersehen, dass wir das trotz allem noch können. Auch wenn wir vielleicht bestimmten Erfolgs- und Effizienzmaßstäben genügen wollen, können wir uns immer noch kritisch über Facebook äußern. Facebook hat uns noch nicht ganz gekauft. Wir haben sehr viel internalisiert an Zwang und Druck, aber es gibt schon noch diesen Freiheitsraum. Den nicht zu verlieren – darum geht es. Das sollte man definitiv auch nicht übersehen beim Schwarz-Malen.

Sie waren ja im Iran. Wie haben Sie Ihren Aufenthalt dort erlebt?

Es ist schwierig zu sagen, weil ich natürlich als Touristin, als Deutsche, anders behandelt werde. Man muss sagen, dass es im Iran extrem selbstbewusste Frauen gibt. Es gibt natürlich einen Kopftuchzwang, aber das ist zum Teil auch, zumindest in Teheran, ein Spiel mit dem „wie weit darf ich gehen“. Das Kopftuch ist dann mehr so etwas, das so wie ein Schal über den Haaren hängt. Es wird sehr frei interpretiert und es gibt ja mittlerweile auch die Bewegung der Frauen, die sich des Kopftuchs entledigt haben und mit offenem Haar demonstriert haben. Es gibt, wie ich es erlebt habe, eine sehr starke Frauenbewegung. Die Frauen wollen Rechte. Sie haben auch Rechte. Es ist nicht so, dass es völlig rechtsfrei ist. Es gibt an den Universitäten sehr viele Frauen und nicht nur als Studentinnen, sondern auch als Professorinnen. Es ist nicht so, dass es eine rein männerdominierte Gesellschaft wäre. Was für den Iran ausschlaggebend ist, ist, dass die Bildung durchaus bei Frauen genauso ankommt. Es wird nicht geteilt, dass nur die Männer unterrichtet werden und an die Universitäten kommen, sondern die Frauen können bei der Bildung ganz genau so stark sein und durch die Bildung – das ist ja fast immer so –, ist dann auch der Wunsch nach Rechten, auch das Wissen darum, wie man sich selbst zu Rechten verhält und wie man sich selbst Rechte erkämpft, umso größer. Ich habe es natürlich als eine Gesellschaft erlebt, in der es bestimmte Vorschriften gibt: Ein Mann darf mir nicht in der Öffentlichkeit die Hand geben und all sowas. Aber dennoch muss man so etwas differenziert sehen. Zum Teil habe ich die Frauen als deutlich emanzipierter und feministischer erlebt, als ich es manchmal hierzulande erlebe.

Die österreichische Regierung will das Kopftuch per Gesetz in Kindergärten und Volksschulen verbieten.

Aus meiner Sicht wird da auf dem Rücken oder, in dem Fall auf, dem Kopf der Frauen etwas ausgetragen, was sich eigentlich nicht mit der Kleidung von Frauen beschäftigt. Ich glaube nicht, dass es der einen oder anderen Partei wirklich um die Rechte der Frauen geht, sondern es wird eine Debatte darüber, was ist in Österreich oder in Europa kulturell erlaubt und was ist nicht mehr erlaubt. Wir hatten ja hier in Deutschland, in Bayern zumindest, die Debatte darüber, ob das Kreuz in Amtsstuben hängen darf. Da habe ich eine deutliche Meinung dazu. Ich bin selbst christlich, ich bin tatsächlich katholisch, aber ich finde, das Kreuz darf nicht als politisches Vorwahlkampfmittel zweckentfremdet werden. Das ist aus meiner Sicht tatsächlich blasphemisch. Wenn jemand atheistisch ist, finde ich das völlig nachvollziehbar. Ich gehöre nicht zu den Katholiken, die meinen, dass jetzt alle katholisch werden müssten. Aber ich finde es problematisch, wenn man sich katholisch nennt oder christlich nennt, und diese Symbole vollkommen wert- und sinnentleert und zu etwas anderem macht, als sie sind. Das hat ja auch nichts mit Atheismus oder Hinterfragung von Religion zu tun, das hat etwas mit Instrumentalisierung zu tun. Und so etwas Ähnliches passiert natürlich mit diesen Kopftuchdebatten. Alle muslimischen Frauen, die ich kenne, sind extrem ermüdet davon, weil sie –, ob sie jetzt eins tragen oder nicht –, immer darauf angesprochen werden. Das sind zum größten Teil extrem kluge, sehr gebildete Frauen, die ich kennengelernt habe, weil sie auch Bücher geschrieben haben oder weil sie wissenschaftlich arbeiten, die wirklich viel zu erzählen haben, und die Frage ist immer: Warum trägst du ein Kopftuch oder warum trägst du keins.

Es wird immer darauf reduziert.

Genau, und das führt natürlich wieder dazu, dass Frauen nur über ihre Kleidung reden dürfen. Und das ist ja auch problematisch. Ich glaube nicht, dass die Kultur auf- oder untergeht, weil irgendjemand ein Kopftuch trägt. Als ich in Jerusalem war, in einer Kirche, da habe ich auch ein Kopftuch getragen, weil es mir angemessen erschien. Es mag bestimmt Momente geben, in denen es mir aus meinem persönlichen Empfinden, vielleicht aus meinem religiösen Empfinden angemessen erscheint. Und wenn das eben immer ist, wenn ich auf die Straße gehe, dann ist es so. Ich glaube, die Unterdrückung der Frau, wenn sie in der Familie stattfindet, wenn sie vom Mann, vom Ehemann ausgeht, wird man nicht damit lösen, indem man zwangsweise das Kopftuch wegnimmt.

Ihr Reportagenband „Rotlicht“ ist ein ernüchternder Blick auf die Szene. Pornografie findet man heute fast überall. Es gibt keine Geheimnisse mehr, Nacktheit ist omnipräsent. Wie soll man als junges Mädchen, als junge Frau mit dieser Überfülle an Bildern auch in den sozialen Medien, ein gesundes Selbstverständnis entwickeln und einen gesunden Zugang zu Erotik und Sexualität?

Ich glaube, dass es sehr schwierig ist. Ich glaube, es ist in jeder Generation schwierig. Das, wogegen mit der sexuellen Revolution noch angegangen wurde, ist das Verdrängen, ist die Überrestriktion, ist das Verbot, das Nicht-Zeigen, das Nicht-darüber-Reden-Dürfen. Heute gibt es ja eher so einen Bekenntniszwang: Jeder muss erzählen, jeder muss berichten, jeder muss dies und das und jenes erlebt haben. Früher durfte man gar nichts erlebt haben. Hat man es vielleicht, ist man dann mit Schuldgefühlen herumgelaufen. Heute ist es umgekehrt. Man hat vielleicht dieses und jenes noch nicht erlebt und dann muss man es erfinden, weil man ja sonst völlig aus der Zeit gefallen wirkt und einfach verklemmt und lustfrei oder was auch immer. Sexualität und Intimität sind ein Bereich, der sehr, sehr privat ist, sehr schützenswert ist, und diesen Schutz hat wahrscheinlich keine Zeit je hinbekommen. Es ist immer ausgenutzt worden, es ist etwas, was uns allen extrem nahe geht, es ist natürlich auch der Moment, in dem wir über das rein sprachliche Verständnis, über die normalen Formen der Kommunikation hinausgehen und eine ganz andere Kommunikation, auch ein ganz anderes Ich-Verständnis haben oder ein Verschwimmen, Verschwinden und so weiter. Wir nehmen uns ja wirklich ganz, ganz anders wahr, als wir es in allen sonstigen Momenten unseres Lebens, unseres Alltags tun. Das heißt, es ist ein sehr leicht zerstörbarer oder störbarer Bereich unserer Existenz und etwas, das immer angegriffen wurde, was immer mit Herrschaft traktiert wurde. Herrschaft und Sexualität haben immer zusammengehangen. Natürlich ist es nicht zufällig, dass bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit Vergewaltigung mit dazuzählt, dass das etwas ist, was auch in Kriegssituationen als Waffe verwendet wird, als absolutes Mittel der Erniedrigung. Es ist also unfassbar schwer, da einen selbstbewussten Umgang zu finden. Ich bin ja noch nicht so aufgewachsen, dass ich mit sechzehn ein Smartphone hatte. Aber Mädchen und Jungen, die jetzt sechzehn sind, wachsen ja wirklich mit noch viel mehr Bildern und noch viel leichter abrufbaren Bildern auf, als ich das damals bin. Bei mir gab es noch die Tutti-Frutti-Show um 23 Uhr. Man hat Ärger gekriegt, wenn man sich die angeschaut hat. Das war ja noch sehr zahm im Vergleich. Dieser Normierungszwang hat früher bedeutet, dass bestimmte Dinge als pervers eingestuft wurden, die wir heute auf gar keinen Fall mehr als solche einstufen würden – ob es jetzt Homosexualität ist oder ob man gerne Lederunterwäsche tragen möchte. Das, was früher alles komplett in den Bereich des Tabus gedrängt wurde, das ist heute viel freier, viel libertärer, viel liberaler, mit weniger Verboten besetzt. Aber: Der Normierungszwang geht vom Verbot weg zum Gebot. Ein Beispiel dafür – das sind jetzt nicht mehr die Sechzehnjährigen, sondern das sind eher die 26-jährigen bis 46-jährigen –, ist die Frage nach einer offenen Beziehung. Das kann für manche ein wunderbares Modell sein. Ich erlebe es nur so, dass ganz, ganz selten tatsächlich zwei Leute zu diesem Modell passen. Meistens ist es so, dass eine Person das gern erleben will und die zweite Person sich aus Verlustangst darauf einlässt, sich in eine Promiskuität hineinbegibt, nicht nur die Promiskuität des anderen erträgt – was sozusagen das alte Modell wäre: Jemand geht fremd, und muss es dann mit Tränen und Schweißausbrüchen beichten und unglaublich viele Blumen kaufen. Das wird ausgehebelt. Ich habe mich nicht falsch verhalten, weil ich dich betrogen habe, weil ich dich verletzt habe – das ist alles so abgemacht: Das kann gut funktionieren, wenn beide gleichermaßen promiskuitiv veranlagt sind, aber diese Kombination sehe ich zumindest selten. Das ist eben ein großer Zufall dann, das ist Glück. Aber meistens wird die Person, die nicht promiskuitiv veranlagt ist, in die Situation gebracht, Promiskuität ausleben zu müssen, um nicht die altbackene Person da auf dem Sofa zu sein und sich auch weiterzuentwickeln oder wie auch immer. Und da fängt das eben an, dass man gegen die eigenen Bedürfnisse lebt, dass man gegen das eigene Empfinden für Intimität lebt. Es gibt sicherlich Phasen, in denen das variiert. Aber ich glaube schon, dass manche Menschen sexuell sehr, sehr monogam sind – nicht, weil es ihnen verboten wird, mit anderen Menschen etwas zu haben, sondern weil sie diese Nähe und das Vertrauen nur mit einem Menschen teilen möchten. Diesen Menschen Promiskuität aufzudrücken, ist höchst unschön, genauso unschön, wie das frühere Verbot von Dingen, die da nicht ausgelebt werden durften oder nur sehr heimlich und mit großen, großen, großen Ängsten und mit großen Schuldgefühlen verbunden wurden. Aber das wird wahrscheinlich immer problematisch sein. Ich glaube, das Einzige, was man tun kann, ist, sich darüber im Klaren zu sein, dass man sich von den vorgegebenen, vorgelebten Bildern distanzieren muss und für sich selbst suchen muss.

Das, was Sie nach den Recherchen erlebt haben, war eine große Ernüchterung?

Ja, extrem. Ich war ja wirklich nur Zuschauerin, ich bin da ja immer herausgekommen. Aber was ich unterschätzt habe, war, dass es tatsächlich Intimität auch nachhaltig für eine Zeit zerstört, wenn man ständig über die eigenen Grenzen oder über die Grenzen, die für einen selbst gesund sind, geht. Das habe ich ein bisschen unterschätzt. Das war vielleicht eine Recherche, die etwas länger angedauert hat, als ich das beabsichtigt habe.

Und dieses Machtgefälle zwischen Männern und Frauen haben Sie da sehr stark erlebt?

Genau. Man kann es nicht nur auf Geschlechter münzen. Ich habe mich natürlich hauptsächlich in Deutschland umgesehen, und da ist das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen noch ganz stark, gerade in dem Bereich. Und wenn man von der kompletten Gleichberechtigung redet, sich aber diesen Bereich nicht ansieht, und in diesem Bereich dieses extreme Machtgefälle ist – und das ist ja nun kein nebensächlicher Bereich, da geht es ja nicht darum, ob genauso viele Frauen Fußball spielen wie Männer oder so was –, dann kann man nicht davon sprechen, dass Frauen unter den gleichen Voraussetzungen und den gleichen Bedingungen leben. Wenn ein Mann 300 Euro pro Tag verdient, dafür keine Zeit mehr hat für ein Privatleben, dann kann er sich dafür am Abend dann ein Callgirl kommen lassen. Kann die Frau theoretisch auch. Es ist aber wirklich eine komplett anders konnotierte Chose. Und das Machtgefälle, das man jenseits der Geschlechter hat – wenn man sich Sextourismus anschaut –, da ist das Machtgefälle dann das zwischen Erster und Dritter Welt, ein ökonomisches Machtgefälle. Es gab ja diesen Film des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl, „Paradies: Liebe“, über Sextourismus in Afrika, über Frauen, die dorthin reisen. Da zeigt es sich eben, dass es nicht nur das Geschlecht ist, sondern dass es immer damit zu tun hat, wer in der Machtposition ist, wer einen Machtüberschuss hat, und dass es eigentlich immer ein Ausnutzen von Unterlegenheit, von Notsituationen ist, und sehr oft wenig reflektiert wird. Es ist ja nicht so, dass da keine Akademiker oder hoch reflektierten Menschen hingehen würden, aber auch da wird sehr, sehr stark ausgeblendet. Der Spruch, dass Prostitution natürlich schlimm ist auch für die Frau, zu der man geht, aber wenn man selbst bei der ist, ist es ja für die zumindest eine Stunde lang schön – das ist ein ganz häufiger Ausspruch. Ich könnte mir vorstellen, dass bestimmt mindestens die Hälfte aller Freier diese Ansicht haben. Und das ist natürlich auch ein sehr schöner Selbstbetrug, denn wenn es so wäre, dann wäre Prostitution ja ein super Beruf.

Das ist an Zynismus ja kaum mehr zu überbieten.

Genau. Aber das wird wirklich geglaubt.

Sie begannen sehr früh zu schreiben, wurden sehr früh veröffentlicht und hatten sofort Erfolg. Haben Sie je Druck verspürt?

Ich habe immer so einen inneren Druck verspürt. Gerade beim zweiten Roman ist es vielleicht noch mal besonders stark, dass man denkt: Oh Gott, was sagen die Kritiker, und das wird sicherlich auch immer wieder kommen. Momentan habe ich mich ein bisschen davon frei gemacht. Aber ich will nicht sagen, dass ich jetzt für immer und ewig daraus gelernt habe, sondern es gibt sicherlich Phasen, in denen das wieder stärker wiederkommt. Wahrscheinlich am stärksten, wenn man so einen bestimmten großen Sprung gemacht hat, wenn man nochmals deutlich aufmerksamer wahrgenommen wurde als vielleicht bei dem Buch davor. Wenn irgendetwas Neues passiert oder irgendwelche Reaktionen kommen, die man so nicht kannte. Aber der innere Druck ist, glaube ich, größer. Das hat etwas Gutes wie auch etwas Schlechtes. Dass man sich selbst nicht genügt, hat etwas, das einen auch zermürbt, aber einen umgekehrt auch dazu bringt, sich komplett hineinzustürzen und hineinzusteigern. Und das hat dann wieder etwas ganz Tolles, wenn man diesen Punkt überschritten hat, sich dann wirklich in dieser Welt zu bewegen, in der man sich literarisch befindet – das ist toll. Wenn es mit weniger Druck oder wenn es mit weniger Selbstzweifel wäre, würde man vielleicht viel oberflächlicher daran herangehen.

Brecht mögen Sie nicht so?

Ich bin nicht die allergrößte Freundin seiner Gedichte, aber es gibt auch sehr lustige Gedichte von ihm. Die würde ich mir nicht als Vorbild nehmen, die würden mich nicht inspirieren, aber wenn ich sie höre, kann ich schon lachen, dann finde ich sie gelungen. Aber tatsächlich dieses sehr Pädagogische, das ist mir zuwider.

Die 1982 geborene Nora Bossong wuchs in Bremen und Hamburg auf, wo ihr Vater als Drogenbeauftragter arbeitete. Sie studierte Kulturwissenschaften, Literatur und Philosophie in Leipzig, Berlin und Rom. 2006 erschien der Debütroman „Gegend“. Für den Gedichtband „Sommer vor den Mauern“ wurde sie mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Sie ist Autorin der „Zeit“, der „FAZ“ und der „taz“. Zuletzt erschien der Reportagenband „Rotlicht“ über das Milieu. Bossong ist Mitglied des Pen-Zentrums Deutschland und lebt in Berlin.

„Kreuzzug mit Hund“ (Suhrkamp), 101 S.

„36,9°“ (dtv), 320 S.