Schreiben ist sein Leben: Der Vorarlberger Michael Köhlmeier fügt seinem maßgeblichen Werk den faszinierenden Roman „Bruder und Schwester Lenobel“ hinzu. Das Buch erzählt tragikomisch und unprätentiös von Selbstverlust, Selbstfindung und (jüdischer) Identität heute. Foto: Jorghi Poll.


Buchkultur: In Ihrem 2007 erschienenen Roman „Abendland“ war Robert Lenobel nur eine Randfigur. Im neuen Buch „Bruder und Schwester Lenobel“ nimmt er eine zentrale Stelle ein. Seine Geschichte ist auch der Versuch einer Selbstfindung. Was ist das für ein Mensch?

Michael Köhlmeier: Er ist ein Zyniker. Ich habe das Buch gerade als Hörbuch aufgenommen, und wenn man es jemandem Außenstehenden, in diesem Fall war das der Tontechniker, vorliest, sind die Figuren viel schutzloser. Meine Frau kennt ja jede Diskussion darum und jede Verformung dieses Charakters. Und da habe ich mir gedacht: Der ist ja teilweise wirklich eine „Kretzn“, ein solcher Zyniker, so ein böser. Und dann tut er einem wieder leid. Seine Schwester Jetti Lenobel kam schon in den Erzählserien „Bevor Max kam“ und „Nachts um eins am Telefon“ vor. Mein Freund Hanno Loewy, der Leiter des Jüdischen Museums in Hohenems, hat sich so ein bisschen in die Jetti verliebt, und er wollte, dass ich weiter über sie schreibe. Robert Lenobel habe ich in den Roman „Abendland“ übernommen und dann nochmals in „Madalyn“ und „Joel Spazierer“. Seine Frau Hanna kommt auch in allen vor, aber nur sehr am Rande. Die Figuren der Jetti und des Robert haben sich dann so nach vorne gesponnen. Und dann fiel mir der erste Satz ein. Hanna schreibt Jetti eine Mail, in der sie sagt: Komm her, dein Bruder wird verrückt. Und wenn so ein Satz erst einmal da steht, dann folgt einiges daraus. So habe ich mich leiten lassen. Plan mache ich keinen vorher.

Robert und Jettis Mutter wurde ja tatsächlich verrückt. Die Nachricht ist also sehr angstbesetzt.

Ich wollte das nicht so deutlich aussprechen lassen, denn ein bisschen muss sich der Leser auch selber dazu denken können. Aber diese Angst, ihren Eltern nachzukommen, haben sie natürlich beide, Jetti und Robert. Der Vater ist ja nicht verrückt, aber ein unsteter Mann, der die Familie plötzlich verlässt. Und die Mutter wird offensichtlich verrückt. Es ist auch kein Zufall, dass Robert Psychoanalytiker geworden ist, das ist ja oft so. Und „verrückt“ heißt bei ihm ja auch, dass er aus seiner Bahn gerückt ist.

Und dann verschwindet er und meldet sich plötzlich aus Israel.

Robert ist Jude, hat aber mit dem Judentum eigentlich nichts am Hut. Jetti sowieso nicht. Aber dann merkt er, dass er alle Identität verloren hat, an der er sich festhalten kann. An der Familie kann er sie nicht mehr festhalten, denn die Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. Mit der Frau geht es nicht. Und dann zerbricht seine Liebe mit der Bess, das funktioniert auch nicht. Dann zweifelt er an seinem Beruf und denkt sich, das ist ja alles Schwindel. Probehalber besinnt er sich also auf die Tradition seiner Väter und geht nach Israel, um zu sehen, ob das etwas nützt. Aber allein an der Tatsache, dass er an der Klagemauer sieht, dass alle einen Zettel hineinstecken und er hat nichts anderes als ein gebrauchtes Tempotaschentuch, das er dann hineinsteckt, merkt man, dass ihm das wahrscheinlich kein Fundament schaffen wird.

Seine Frau Hanna hingegen drängt ihn geradezu, sich zu seinem Judentum zu bekennen. Sie wirkt betroffener als er, dessen Großeltern von den Nazis ermordet wurden.

Sie ist als Nicht-Jüdin jüdischer als er. So etwas kann man ja auch beobachten. Robert hat zu seinem Jüdisch-Sein ein eher provokantes Verhältnis, aber es ist auch nicht so, dass er sich daran sehr reibt. Er probiert Rollen aus. Ich habe kein Vorbild für ihn. Aber mein Freund Hanno Loewy ist Jude. Er leitet das Jüdische Museums in Hohenems und ist sehr oft in Israel, aber er ist vollkommen säkularisiert aufgewachsen. Er hat eine ironische Distanz zur Religion. So wie ich zum Katholizismus. Und das ist bei Robert im Buch genauso.

Gelingt es Robert Lenobel, die eigene Identität zu finden? Findet er zu sich selbst zurück?

Ich würde es dem Leser gegenüber unfair finden, wenn ich wüsste, wie es mit meinen Figuren ausgeht und es nicht schreibe. Obwohl ich dringend hoffe, dass Sebastian Lukasser und Jetti Lenobel einander heiraten. Sie hat ihm ja einen Antrag gemacht, und er hat sofort Ja gesagt. Also nehme ich an, dass sie es tun. Ob sie ihm treu ist, das weiß ich nicht. Ich fürchte, das liegt nicht in ihrem Naturell. Aber vielleicht will sie es gerade deshalb sein, weil sie es ihr Leben lang nie war. Auch das ist möglich. Dass Sebastian Lukasser ihr treu ist, dass er bei ihr bleiben will, das glaube ich fest. Das wäre die Erfüllung für ihn. Was Robert und Hanna betrifft: Ich glaube nicht, dass sie wieder zusammenkommen. Ich glaube, Hanna weiß das auch. Und er auch. Obwohl er dann unsicher ist. Er schickt Sebastian eine Mail, in der er ihn bittet, seine Geliebte Bess anzurufen. Ich denke, Bess und Robert kommen noch einmal zusammen, aber nicht für lange. Dann könnte es sein, dass Robert wieder zu seiner Frau zurück finden will. Aber vielleicht will sie ihn dann nicht mehr. Das bleibt alles offen. Aber für die beiden Buben im Buch, Roberts Sohn Hanno und Sebastians Sohn David, sehe ich eine gute Zukunft. Die werden sich mögen, und die werden unter dem Naserümpfen von Hanna und Robert nichts Intellektuelles machen, sondern einen Betrieb aufmachen, schweißen und so. Es gibt heute ja Leute, die ganz erfolgreiche, winzig kleine Betriebe haben, in denen sie nur Sachen reparieren. Man will ja nicht gleich die ganze Waschmaschine wegschmeißen, nur weil der Haken gebrochen ist, wo man die Tür zumacht. Wir hatten eine Waschmaschine, die vollkommen in Ordnung war, nur dort, wo man die Tür zumacht, war dieser Plastikhaken gebrochen. Als ich nachfragte, sagte man mir, dass es keine Ersatzteile gibt, auch keine Ersatztür. Dann habe ich selber den Haken aus Hartholz ausgesägt und eingesetzt, und er hat noch vier oder fünf Jahre gehalten. So etwas in der Art werden die beiden machen, auch Erfindungen, manche werden schief gehen, andere funktionieren. Die beiden haben mir gut gefallen, die habe ich gern gehabt. Und sie sind frei von jedem Intellektuellenstress.

Der Roman paraphrasiert im Titel das Märchen der Brüder Grimm. Märchen leiten auch die jeweiligen Buchkapitel ein. Diese Märchen haben aber Sie geschrieben?

Im Buch ist es Sebastian Lukasser, der diese Märchen offensichtlich sammelt. Die sind alle ziemlich heavy, ja. Und ja, die meisten sind von mir. Märchen sind in gewisser Weise ja eine Weitergabe von einem Staffelstab. Bei etlichen Märchen gibt es einen Kern, der schon in einem anderen Märchen erzählt worden ist. Ich besitze eine dreibändige, sehr eng gedruckte Ausgabe der beiden Forscher Johannes Bolte und Georg Polivka, die darin den Wurzeln jedes einzelnen Märchens der Brüder Grimm nachgehen: Woher es stammt, woher es beeinflusst wurde, woher die Motive kommen. Die meisten Märchen enthalten also vorhandene Motive, bis hin zum Joker von „Batman“.

Ist es heute schwieriger, sich in der Welt zurechtzufinden, seine Identität zu finden? Robert Lenobel versucht es sogar über die sozialen Medien und schreibt da unter den verschiedensten Nicknames zum Teil ganz Fürchterliches.

Das findet er ganz toll, dass er da als jüdischer Psychoanalytiker antisemitische Postings schreibt. Ganz nebenbei: Ich glaube, dass viele dieser fürchterlichen Postings, die da geschrieben werden, nicht immer unbedingt 1:1-Rückschlüsse auf die Gesinnung der Schreiber zulassen. Wir sind ja so erzogen worden, dass das, was ich allein tue, keine Sünde sein kann. Und man redet da mit niemanden. Man hat das Gefühl, man ist für sich allein in seinem Kämmerlein. Ich glaube, es wäre falsch anzunehmen, die denken wirklich so, manche ja, aber alle sicher nicht. Es ist auch ein Abenteuer, das zu schreiben, und zu sehen, wie darauf reagiert wird. Und das probiert Robert eben auch aus. Aber: Ja, ich würde sagen, es ist schwierig, sich heute zurechtzufinden. Ein öffentliches Sich-Zurechtfinden ist ein anderes als ein privates. Ein öffentliches Sich-Zurechtfinden hat mit Ideologie zu tun. Bis in die Achtzigerjahre konnte man noch ein Sozialist sein. Später war das dann schwierig, weil der Sozialismus weltweit an sein Ende gekommen war. Es gibt ja diesen Spruch, wenn die verschiedensten Köche dieser Welt ein und dasselbe Rezept kochen und immer schmeckt es grausig, dann liegt es vielleicht gar nicht an den Köchen, sondern am Rezept. Da ist also keine Identifikation mehr möglich. Nach dem 20. Jahrhundert ist es intelligenten Menschen in Europa nicht mehr möglich, sich ernsthaft mit einer Ideologie zu identifizieren. Im Gegensatz zu vielen Leuten, die aus dem islamischen Bereich kommen, bietet uns auch die Religion keine Identifikation mehr. Und zu sagen, ich identifiziere mich mit der Demokratie – das ist viel zu abstrakt. Das heißt, was die Öffentlichkeit betrifft, gibt es keine emotionalen Bindungsmöglichkeiten mehr. Außer vielleicht die mit meinem Sportklub, aber das ist dann schon ein bisschen wenig fürs Leben. Was nun private Identifikation betrifft: Bedenken Sie, wie viele Familien zerbrechen. In meinem Bekanntenkreis gibt es niemanden, der nicht zumindest in zweiter Ehe verheiratet ist. So etwas wie Großfamilie gibt es längst nicht mehr. Freunde gibt es vielleicht, aber viele Menschen sind aufgrund ihrer Arbeitssituation gezwungen, oft ihren Wohnsitz zu ändern. Freunde werden dann plötzlich Facebook-Freunde. Und das ist ja schon die Pervertierung: Zu sagen, man hätte 5000 Freunde, wo doch jeder weiß, dass man im Leben maximal fünf bewältigt. Identifikation, sei es im Privaten, sei es im Öffentlichen, zerbröselt. Dann gibt es vielleicht noch die Identifikation mit dem Beruf. Das ist so eine Schnittstelle zwischen Privatem und Öffentlichem. Ich danke meinem lieben Gott jeden Tag dafür, dass ich in einer völlig privilegierten Situation bin. Ich identifiziere mich hundertprozentig mit dem, was ich tue. Wenn ich wüsste, diese Identifikation zerbricht, dann würde ich zerbrechen. Ich habe Carl Zuckmayer immer bewundert. Als er in die Emigration gegangen ist, rechnete er damit, dass er den Untergang der Nazis nicht mehr erleben würde. Er konnte ja nicht wissen, dass der Spuk 1945 vorbei ist. Auf der Überfahrt in die USA ging er seine Möglichkeiten durch: Soll ich ein verbitterter Emigrant werden, der in einer Sprache schreibt, die in dem Land, in das ich emigriere, kein Mensch redet, und der wahrscheinlich nie verlegt wird, und ich bin dann nur frustriert und werde böse. Und da hat er beschlossen: Ich war Schriftsteller, ich bin keiner mehr, ich werde jetzt Farmer. Das könnte ich nicht mehr. Das könnte ich in meinem Alter nicht mehr, und das hätte ich auch mit Vierzig nicht gekonnt, weil meine Identifikation als Schriftsteller so groß ist, dass ich daran zerbrechen würde, wenn das plötzlich aufhören würde. Obwohl ich das so beim Schreiben nicht beabsichtigt habe, ist Robert Lenobel insofern ein Spiegelbild der zerbrechenden Identifikation in unserer Gesellschaft. Wenn ich anfange, von meiner Seele zu sprechen, sagt er, dann ist das Ende gekommen. Weil er ja nicht an die Seele glaubt.

Seine Schwester Jetti wiederum flüchtet sich in die Unverbindlichkeit. Lukasser ist der Erste, bei dem sie sich denkt, er könnte tatsächlich „der Richtige“ sein.

Ihr Bruder Robert wirft ihr vor, dass es ein Zeichen von Irrsinn sei, wenn man mit seinem vergangenen Ich keine Beziehung hat. Jetti dagegen sagt: Wenn etwas aus ist, ist es vorbei, damit habe ich nichts mehr zu tun. Don’t look back. Das kann Robert nicht, als Psychoanalytiker sowieso nicht. Aber sie kann das.

Sebastian Lukasser, Ihr literarisches Alter Ego, tritt auch in Ihrem neuen Roman auf.

In „Abendland“ und „Madalyn“ ist er der Erzähler, in „Joel Spazierer“ ist er eine Nebenfigur, und hier ist er auch eine Nebenfigur. Er ist ein Alter Ego, aber er ist keine autobiografische Figur. Der Unterschied ist: Wenn ich sage, er ist eine autobiografische Figur, dann würde ich mich zur Wahrheit verpflichtet fühlen – wobei ich nicht genau weiß, was das in der Schriftstellerei heißt. Bei einem Alter Ego habe ich die Freiheit, meine eigene Biografie nach Bedarf ausbeuten zu können. Im „Abendland“ wird erzählt, dass Lukasser Prostatakrebs hatte. Ich hatte den auch, und da dachte ich: Menschenskind, soll ich den umsonst gehabt haben?! Ich hatte solche Angst damals, solche Sorge. Ich habe es wunderbar überstanden, aber auf diesen Stoff will ich nicht verzichten. Also beute ich das aus. Und bei anderen Sachen auch. Und wo ich es nicht brauchen kann, mache ich es anders. Ich bin meiner eigenen Biografie gegenüber sehr frei, solange ich damit ein Alter Ego versorge. Dieses Gefühl hätte ich bei einem autobiografischen Ich nicht. In dem Roman „Geh mit mir“ schreibe ich über den Herzinfarkt meines Vaters. Ich dachte, das würde ein ganz autobiografisches Werk werden. Der Anruf meiner Schwester fand genauso statt. Aber ich wusste, schon wenn „Ich“ dort steht, bin nicht ich es, von dem die Rede ist. Ich kann das nicht. Genauso wäre es, wenn ich über reale Vorbilder schreiben würde. Ich hätte immer das Gefühl, ich müsste der Figur, der Person, die sich im Text frei bewegen will, Zügel anlegen. Sobald sie auf dem Papier steht, ist sie eine literarische Figur. Und wenn ich die einenge in ihrer Handlung, schweigt sie irgendwann und sagt: Mach doch deinen Dreck selber. Die Autoren machen sich Illusionen, wenn sie meinen, sie schrieben wirklich über sich. Das geht nicht. Wenn ich einer Figur befehle, was sie zu tun hat, wenn ich vor ihr anstatt hinter ihr hergehe, wird sie papieren. Und wenn eine literarische Figur nicht lebt, dann merkt das der Leser. Die besten Autobiografien sind die verlogenen.

Sie sprachen von Ihrer Krebserkrankung, Panikattacken kamen dazu. Wie geht es Ihnen heute?

Mit den Panikattacken geht es gut. Aber Panikattacken wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht. Ich hatte das Gefühl, dass die auf Dauer das Ich auflösen. Ich habe das zehn Jahre gehabt. Nicht durchgehend, das würde kein Mensch aushalten. Nach Paulas Tod hatte ich eineinhalb Jahre keine. Dieses Ereignis hat alles andere weggeblasen. Als ich hinterher mit meinem Psychiater geredet habe, meinte er zu mir, dass er es mir vorher nicht sagen wollte, aber dass so etwas seiner Erfahrung nach zehn Jahre dauert. Und danach geht es so plötzlich weg, wie es gekommen ist. Und genauso war es. Ich kann nicht sagen, womit es zu tun hat. Bess im Buch leidet auch daran, und sie sagt, dass es nichts mit Panik zu tun hat: Das finde ich auch. Es ist etwas Körperliches. Früher hätte man gesagt, es ist eine Besessenheit, es ist etwas in mir, von dem ich nicht weiß, was es ist. Und die Angst, die man hat, entsteht aufgrund dessen. Die Angst ist nicht die Ursache der Panikattacken, sondern die Folge. Aber vor dem Zustand, dass man nicht weiß, was mit einem los ist, hat man dann natürlich Angst. Das ist das Merkwürdige daran. 2007 erschien „Abendland“. Meine erste öffentliche Lesung daraus war beim Erlanger Poetenfest. Man sitzt da oben auf einer Bühne und liest vor tausend Leuten, die auf der Wiese sitzen. Danach geht man auf eine Nebenbühne und hat ein Gespräch mit einem Kritiker oder eine Kritikerin. Ich hatte eins mit Verena Auffermann. Ich kannte sie nicht persönlich, aber ich wusste, wenn sie ein Buch mag, dann mag sie es leidenschaftlich. Wenn sie es nicht mag, dann mag sie es leidenschaftlich nicht. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob ich überhaupt nach Erlangen fahren soll. Ich telefonierte vorher mit meinem Psychiater und sagte: Du, ich fühle mich ganz schlecht. Er sagte: Mach es. Auch dort rief ich ihn noch an, sagte, ich habe Angst, eine Attacke zu bekommen. Er sagte mir, ich solle eine halbe Xanor mitnehmen und dass ich die auch auf der Bühne nehmen könne. Ich las dort also, und hinterher sind wir auf das Nebenpodium gegangen. Verena Auffermann hat gar nicht hochgeschaut. Und dann griff sie in ihre Tasche und nahm eine Ausgabe von „Abendland“ heraus, die sie in der Mitte in zwei Teile auseinandergerissen hatte. Und das zeigte sie dem Publikum. Und ich dachte mir: Na gut … Und sie sagte: Nein, nein, Sie missverstehen das völlig: Ich habe das Buch im Urlaub gelesen und habe vor meinem Mann so davon geschwärmt, dass er es auch lesen wollte. Er konnte dann nicht warten und hat das Buch in der Mitte auseinandergerissen, damit er einstweilen die erste Hälfte lesen kann. Bei Panikattacken ist es so, dass die Sinneseindrücke zurückgehen: Man schmeckt fast nichts mehr, man riecht fast nichts mehr. Auf dem Festgelände gab es Stände mit Coburger Bratwürsten und Kartoffelsalat – meine Mutter kommt ja aus Coburg –, und ich roch das alles, und nahm mir ein Bier, und dann spürte ich so einen Einklang mit mir, und da dachte ich mir: So, jetzt ist es vorbei. Natürlich hat man Angst, dass man sich täuschen könnte. Aber irgendetwas in mir hat mich bestätigt und gesagt, dass es vorbei ist. Und das war es dann auch. Seither hatte ich keine mehr. Ich habe immer wieder Angst davor gehabt. Als ich den „Club 2“ moderiert habe, saß ich die ganze Zeit über mit einer Xanor in der Hand da und dachte: Bitte, bitte, bitte, nicht, ich merke, sie kommt, ich muss noch bis ein Uhr durchstehen. Ich dachte mir, schlimmstenfalls nehme ich eine Xanor … Aber es ist vorbei, gottseidank. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mit äußeren Vorkommnissen nichts zu tun hatte. Als Paula starb, war das so eine Explosion für uns, da war das einfach weggeblasen. Und ich dachte auch immer, dass es in den Übergangszeiten Frühling und Herbst am schlimmsten sei. Wenn ich dachte: Gottseidank, den Frühling habe ich überstanden, dann kamen sie, bums, mitten im Sommer. Wenn ich dachte, jetzt ist ein wunderbarer klarer, kalter Winter, da ist sicher nichts, bums, kamen sie. Wenn ich dachte, jetzt stehe ich mit Lesereisen unter einer unglaublichen Anspannung, kam gar nichts. Es war völlig unberechenbar.

Ich erinnere mich an einen schönen Satz aus dem posthum veröffentlichten Erzählband Ihrer Tochter Paula, in dem sie sinngemäß schreibt, dass man dann erwachsen ist, wenn man zum Kaffeetrinken nicht nur die Tasse, sondern auch die Untertasse nimmt.

Die Paula hat mir gesagt, sie kann gar nicht verstehen, dass etwas, das so unglaublich gut riecht wie Kaffee, dann doch relativ unaufregend schmeckt. Der Geruch ist besser als der Geschmack, jedenfalls in der Früh, das stimmt.

Ihre Tochter ist immer noch sehr präsent in Ihrem Leben.

Natürlich. Der Schmerz hat nicht mehr diese Schärfe und diese Bitterkeit, dass man kaum Luft holen kann. Die Trauer ist ein dunkler Freund geworden, aber sie ist da, immer. Wenn jemand sagt – aber das weiß man eben auch nicht, wenn es einen selber nicht betrifft –: die Trauer überwinden. Was soll das heißen? Dass sie nicht mehr da ist? Das will ich nicht, das will ich ja nicht, dann müsste ich sie vergessen. Wenn ich an sie denke, dann denke ich, dass es traurig ist, dass sie nicht da ist.

Sie gehen nach wie vor zum Friedhof.

Ja. Das ist so eingebaut in unseren Alltag.

Sie schrieben in „Madalyn“ auch über sie.

Auch. Aber auch nicht autobiografisch. Aber natürlich war sie beim Schreiben ganz nah bei mir. Und bei den Lukasser-Büchern stand sie auch immer neben mir. Und jetzt sind es vier Bücher rund um den Sebastian Lukasser geworden, insgesamt ein bisschen über zweitausend Seiten. Ich nehme an, dass es jetzt fertig ist, aber man weiß es nicht. Ich möchte auch gar keine Entscheidung treffen. Vielleicht werde ich noch einmal über die beiden Buben schreiben, die habe ich sehr gerne gehabt. Ich glaube, Paula würde es gefallen, wenn ich über diese Buben schreibe, die ja gar keine Buben sind, sondern so alt wie sie.

„Idylle mit ertrinkendem Hund“ hat einen realen Hintergrund?

Ja. Es war mitten im Winter. Ich ging dort spazieren und habe einen Hund gesehen. Ich habe Angst vor Hunden, besonders, wenn mir einer entgegen kommt und ich keinen dazugehörigen Besitzer sehe. Das ist mir unangenehm. Als er mich gesehen hat, ist er auf mich zu galoppiert. Da bin ich über den Zaun geklettert. Aber ich habe ihm angesehen, dass er mir nichts Böses wollte. Er hat mich auch nicht verbellt, sondern war verwirrt. Er ist neben mir auf der anderen Seite des Zauns hergegangen. Irgendwann ist er dann weggelaufen. Am nächsten Tag ging ich wieder dieselbe Strecke. Da kamen Feuerwehr und Polizei. Da dort die Grenze zur Schweiz ist, dachte ich an eine Geiselnahme oder dass etwas anderes Furchtbares geschehen sei. Und dann sagten sie, ein Hund sei in den See eingebrochen. Es war der Hund vom Vortag. Ich antwortete dann noch so salopp: So viel Aufwand für einen Hund, und der Polizist schaute mich strafend an und sagte, jedes Lebewesen sei es wert, gerettet zu werden. Da war ich gerührt. Und daraus hat sich das dann so weitergesponnen. Das war an einem wunderbar herrlichen blauen Tag, in der Nacht hatte es getaut, der Schnee war noch überall, aber auch der Föhn war schon da, den ich so liebe. Eine Idylle, wie man sie sich nicht schöner vorstellen kann. Und gleichzeitig kämpft im See ein Tier um sein Leben. Die Männer rückten alle mit Leitern aus und sie haben den Hund gerettet, sie haben ihn rausgeholt. Idylle mit ertrinkendem Hund. Das war bald nach Paulas Tod. Ich dachte, der ertrinkende Hund bin ich.

Sie sagten einmal, dieses Bild hätte Ihnen die Paula geschickt?

Ja, ich habe mir das so gedacht. Ich habe mich mit dem Hund identifiziert. Ich fühlte mich wie vor dem Untergehen, ich kann das gar nicht beschreiben, dass man da so strampelt … So bin ich mir vorgekommen.

Ihr Roman „Abendland“ war ein in jeder Hinsicht bedeutendes Buch. Sie meinten einmal, davor hätten Sie sich nicht wirklich ernst genommen gefühlt als Schriftsteller?

Das hat sich hauptsächlich auf Österreich bezogen. Ich kam ja wie die Jungfrau zum Kind zum Nacherzählen der griechischen Mythologie. Der damalige ORF-Generalintendant Weis, den ich wirklich schätze und der ein Freund ist, sagte damals zu mir: Schau, es gibt so viele Schriftsteller, aber es gibt niemanden, der so erzählt wie du. Lass doch die Schriftstellerei sein und erzähl, das ist etwas ganz Einmaliges, das kannst nur du. Das hat mir einen Schock versetzt, denn ich habe das immer als Nebenprodukt gesehen. Und dann hat der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler gesagt, ich müsse aufpassen, ich würde dann jetzt ein rechter Bruder Grimm. Und ich dachte mir: Du bist Germanist? Vor dem Vater der Germanistik, Jakob Grimm, solltest du mehr Respekt haben! Muss ich mich von dir warnen lassen, einer zu werden wie die Grimms? Im ganzen 19. Jahrhundert gab es außer Goethe niemanden, der den Brüdern Grimm auf derselben Augenhöhe begegnet wäre. Ihre Märchensammlungen sind das am weitesten verbreitete deutsche Werk auf der ganzen Welt. Der Jakob hat die Sprachwissenschaft erfunden, er hat die Ethnologie erfunden, er hat eigentlich die gesamt Geisteswissenschaft erfunden. Ich habe mich immer als Schriftsteller definiert und zwar in erster Linie als Prosaschriftsteller und Romanschriftsteller, eben als Erzähler. Aber ich fürchtete, ich ruiniere mein Image, wenn ich weiter mündlich erzähle. Dass es ein Bild von mir gibt, das ich nie wieder revidieren kann. Durch „Abendland“ und alles, was dann folgte, war das dann anders.

Meine Tochter Dorothea, die gerade die sechste Klasse des Gymnasiums abgeschlossen hat, lernt die griechische Mythologie, indem Sie sich Ihre Nacherzählungen auf YouTube ansieht und anhört. Erst dann, sagt sie, versteht sie wirklich, worum es geht. Freut Sie das nicht?

Ich habe gern erzählt, keine Frage, und die Geschichten sind ja auch alle toll, und ich erzähle immer noch gern. Wenn ein Schriftsteller sagt, dass er sich weder für Sagen noch für Märchen interessiert, kommt mir das so vor, als wenn ein Schreiner sagen würde, ich interessiere mich nicht fürs Holz. Der Geniebegriff aus dem 19. Jahrhundert, vor allem der Romantik, redet einem ein, wenn du wirklich begnadet bist, dann musst du eigentlich nichts tun, dann setz dich hin und schau zu, wie der Bleistift rennt. Ein Albrecht Dürer hätte nur den Kopf geschüttelt. Der hatte eine Werkstatt, Lehrlinge, Gesellen, die den Beruf gelernt haben. In Amerika ist es bis heute üblich, dass man Creative Writing Kurse besucht, die besten Schriftsteller haben das getan, Nabokov hat es gelehrt.

Auch Mozart war ein von klein auf höchstausgebildeter Musiker.

Er hatte den besten Lehrer, nämlich seinen Vater. Bach hat gesagt: Jeder, der so fleißig ist wie ich, kann dasselbe schaffen. Was ihm natürlich niemand glaubt. Musiker sagen: Wenn du einen Tag nicht übst, merkst du es selber. Wenn du zwei Tage nicht übst, merkt es dein Lehrer, und ab dem dritten Tag merkt es das Publikum. Ich habe Harri Stojka einmal gefragt: Harri, wie oft übst du? Und er antwortete: Jeden Tag sechs Stunden. Unglaublich, oder? Darum ist er so gut. Als Vorarlberger ist man ein hölzernes Eisen. Wir sind ja eigentlich protestantische Katholiken. Wir haben die ökonomische Moral der Protestanten, sind aber Katholiken. Das habe ich in mir. Ich baue wenigstens vor mir selbst dieses Ethos auf, und das bedeutet, jeden Tag zu schreiben. Nicht jeden Tag zwei Seiten, das kann ja kein Mensch. Oder jeden Tag zwei gute Seiten. Das geht schon gar nicht. Aber das Mindeste ist, dass ich jeden Tag wenigstens zwei Stunden am Schreibtisch sitze.

Auch Ihr Roman „Joel Spazierer“ war ein großer Erfolg. Gibt es solche Menschen, die wie er jenseits von Gut und Böse, ohne Moral und Empathie agieren?

Ich war vor kurzem eingeladen, im Psychosomatischen Zentrum Eggenburg im Rahmen eines Seminars über das Borderline Syndrom einen Vortrag zu halten. Borderline-Patienten sind solche Menschen wie der Joel Spazierer in meinem Buch. Er ist vier Jahre, als er vier Tage lang ganz allein in der Wohnung ist. Bis zu einem gewissen Alter weiß ein Kind nicht, ob die Mutter wiederkommen wird, wenn sie das Zimmer verlässt. Es denkt, dass sie dann für immer weg ist, und deshalb weint es. Wenn die Mutter schimpft, glaubt es, dass sie es nicht mehr mag. Mit zwei Jahren hat das Kind dann schon eine Vorstellung von Zukunft. Es ist ihm vielleicht lästig, dass die Mutter aus dem Raum geht, aber es muss keine Existenzangst mehr haben. Es hat Vertrauen, dass sie wiederkommt. Borderliner wissen das nicht. Um nicht in absolute Todesverzweiflung zu geraten, gehen sie keine Beziehung ein und schließen auch die anderen von ihrer Welt aus. Sie sind nicht beziehungsfähig. Der Joel Spazierer im Buch ist zwar schon vier, als er plötzlich allein in der Wohnung zurückbleibt, aber seit diesem Erlebnis wundert er sich, dass es überhaupt noch andere Menschen außer ihm gibt. Er geht davon aus, dass er allein auf der Welt ist. Als Therapeut, Pfleger oder Ehepartner tappt man in die Empathie-Falle. Man glaubt, man könne den Borderliner erlösen und retten. Und die Borderliner verstehen es unheimlich gut, den Partner vor die Alternative zu stellen: Entweder bist du mein Erlöser, oder du bist mein Killer. Aber mit größter Wahrscheinlichkeit bist du mein Killer. So kann keine Beziehung funktionieren.

Kommen wir zu Ihrer viel beachteten Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

Eigentlich hätte Paulus Hochgatterer die Rede halten sollen. Er musste aber zu einem Kinderpsychiaterkongress und hat dann mich vorgeschlagen. Ich habe lange überlegt, ob ich es machen soll, und ich durfte ja nur sechs Minuten reden. Barbara Glück, die Leiterin der Gedenkstätte Mauthausen, hat mir gesagt, dass sich die Schüler, die diese Lebensläufe von fünf in Mauthausen Ermordeten vorstellen werden, ganz lange damit beschäftigt haben. Das waren ganz verschiedene Lebensläufe, und die Schüler stellten dazu ihre Überlegungen an. Das war so berührend, wie die fünf das gemacht haben. Das hat mich zutiefst berührt und alle im Saal. Und ich dachte mir, wenn ich noch den geringsten Respekt vor mir selber haben will, dann kann ich doch angesichts dieser Tatsache nicht so tun, als ob da unten nicht Leute sitzen, die bis heute – gelinde gesagt – ein unklares Verhältnis zu den Nazis haben. Wenn ich das nicht berücksichtige in diesem Rahmen, dann bin ich doch der größte Schleimer, den man sich überhaupt vorstellen kann. Dann bin ich ein noch viel größerer Schleimer, als wenn ich sage: Ich trau mich nicht. Denn dann trau ich mich einfach nicht. Mir haben alle geraten, dass ich es machen soll: Meine Söhne, meine Tochter, Monika, Hanno Loewy. Hanno Loewy sagte dann noch, das sei auch meine staatsbürgerliche Pflicht. Und das ist es auch. Ich kann nicht so tun, als ob das hier alles nicht wäre. Deshalb habe ich auch im ersten Satz gesagt: Bitte erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle. Und gottseidank hat Wolfgang Sobotka vorher noch in seiner Rede gesagt, dass wir die Dinge beim Namen nennen müssen. Und da hab ich gesagt: Ja, so ist es.

Innenminister Kickl sorgt mit der BVT-Affäre und der Einführung einer berittenen Polizei für Schlagzeilen.

Ich halte Kickl für einen wunderlichen Wirrkopf. Wenn er Künstler wäre, würde man denken, das wäre ein rechter Schlingensief in der Politik. Als erste und größte Tat fürs Innenministerium Pferde für die Polizei zu verlangen – das kann doch nur ein Jux sein. Ich hielt es zuerst für einen Scherz. Aber das Gelächter darüber hat sich sehr in Grenzen gehalten. Warum brauchen wir das? Was kann ein Pferd besser als eine Harley Davidson? Und dann die Meldung: Wir suchen braune Pferde. Ist ein scheckiges Pferd nicht einsatzbar bei der Polizei? Haben Sie dieses Bild gesehen, als er in Bayern bei der Polizei war und auf dem Pferd gesessen ist? Da hat er gestrahlt, als ob die Mama ihn mit in den Zirkus genommen und aufs Pferd gesetzt hätte. Ich halte ihn wirklich für einen wunderlichen Kerl. Als zweites ruiniert er den Geheimdienst. Der ist doch ein Clown, ein kauziger, wunderlicher Wirrkopf. Aber vielleicht ist es dann nicht mehr kauzig und wunderlich, wenn so jemand Innenminister wird. Aber für mich hat er etwas Komisches.

In seiner Biografie spricht Bundeskanzler Kurz davon, wie seine Eltern während des Jugoslawien-Krieges Flüchtlinge aufnahmen. Gleichzeitig machte er mit der Schließung der Balkan-Route Wahlkampf. Vor kurzem erregte er mit der Forderung nach einer „Achse der Willigen“ mediales Aufsehen. Hat er nichts aus Ihrer Rede gelernt?

Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich etwas verändere. Aber eine „Achse Rom-Berlin“! Aber dann sagt er, „Achse“ sei für ihn ein ganz normales Wort. Erinnern Sie sich an das Gespräch Jörg Haiders mit Ingrid Thurnher? Thurnher fragte ihn: Herr Haider, Sie sprechen immer von „gewissen Kreisen an der Ostküste“. Damit meinen Sie doch die Juden. Und er sagte: Also Entschuldigung, „Kreise“ ist ein geometrischer Begriff und „die Ostküste“ ist ein geografischer Begriff – darf man das nicht mehr sagen? So kommt mir das mit der „Achse Berlin-Rom“ vor: Als ob es nie eine Geschichte gegeben hätte. Aber ich glaube tatsächlich, Kurz weiß es nicht. Ich glaube, wenn jetzt plötzlich die historische und sonstige Bildung des Herrn Kurz plastisch vor uns stünde, wären wir fassungslos, wie hager die ist. Auf Ressentiments zu setzen, ist immer eine sichere Sache. Es gibt da diesen Witz über einen rumänischen Bauern, dem ein Engel erscheint. Der Engel sagt: Wir beobachten dich schon die längste Zeit vom Himmel aus, du machst deine Sache so prima, jetzt hast du einen Wunsch frei. Und der Bauer sagt: Kann ich mir auch einen Traktor wünschen oder einen Italien-Urlaub? Der Engel sagt: Ja, sicher. Der Bauer überlegt bis zum nächsten Tag und dann wünscht er sich, dass die Ziege des Nachbarn verreckt. Man wünscht sich lieber, dass es dem anderen schlecht geht, als dass es einem selber gut geht. Man verzichtet selber auf die Mindestsicherung und hat die Befriedigung, dass die anderen noch weniger bekommen.

Sie haben es gerade angesprochen: Die Notstandshilfe soll abgeschafft werden, die Mindestsicherung gekürzt, der 12-Stunden-Arbeitstag eingeführt werden.

Und es gibt keine Opposition. Die Sozialdemokraten sind aus dem Tritt. Die Grünen gibt es nicht mehr, auch die Liste Pilz kann man vergessen, und genau in diesem Augenblick hat Strolz von den Neos das Amt niedergelegt. Aber vielleicht ist jetzt die Zeit der außerparlamentarischen Opposition, der Zivilgesellschaft und der Gewerkschaften. Als ich den neuen Gewerkschaftsvorsitzenden im Radio gehört habe, dachte ich mir: Der heizt ihnen ein. Einen 12-Stunden-Tag einführen, und dann sagen, es sei freiwillig! Das wird der FPÖ auf den Kopf fallen, den Verteidigern des „kleinen Mannes“. Und es würde mich nicht wundern, wenn Kurz da mitspielt, ähnlich wie er als Außenminister und Integrationsminister alles getan hat, um seine eigene Regierung an die Wand zu fahren. Ich glaube, dass er sich denkt: Vielleicht gelingt mir der Kreisky-Coup, dass ich bei der nächsten Wahl die Absolute bekomme. Ich halte das nicht für ausgeschlossen, dass er die bekommt, denn mit Ressentiments zu spielen, funktioniert immer.

Europa ist nach rechts gerückt. Sie haben in Ihre Rede auch die Abstumpfung angesprochen. Wie groß ist die Gefahr, dass hier Weichen gestellt werden, die Maßstäbe für andere Länder setzen? Gewöhnen wir uns an den schrittweisen sozialen Abbau? Wie gefährlich ist das alles?

Ja, diese kleinen Schritte. Ich finde, das ist das Allergefährlichste, und das war auch der Satz der Rede, der am meisten zitiert wurde: Das große Böse kommt nie auf einmal, sondern in lauter kleinen Schritten, sodass man sich denkt: Die sind zu klein, die Schritte, für die große Empörung. Ich kannte einen Fall von ehelicher Gewalt. Die übrigens sehr emanzipierte Frau fand sich irgendwann auf dem Gang vor ihrer Wohnung wieder. Ihr Mann hatte sie verprügelt, ihr die Kleider vom Leib gerissen, sie aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen und die Tür abgesperrt. Sie musste bei den Nachbarn klingeln. Ich sagte zu ihr: Du hast dir das gefallen lassen? Das gibt es doch nicht! Wie ist es dazu gekommen? Und sie sagte, dass es irgendwann so klein anfange. Er knufft einen. Lässt man sich scheiden, weil einer einen geknufft hat? Vor allem, wenn er sich sofort entschuldigt, und sagt, dass es ihm wahnsinnig leid tut? Das würde niemand tun. Das nächste Mal knufft er ein bisschen fester, aber er entschuldigt sich auch ein bisschen mehr, heult vielleicht und schlägt sich an die Brust. Das geht so weiter, und irgendwann ist die Ohrfeige da. Wenn die Ohrfeige das erste gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht wirklich scheiden lassen oder sich eine Zeitlang von ihm getrennt. Aber so ist es eben nicht. Die Ohrfeige ist der vielleicht fünfzigste Schritt, und dem gehen neunundvierzig kleine Schritte voraus. Und irgendwann ist man beim letzten Schritt. Das ist das Verhängnisvolle. Und in der Politik ist es auch so. Wir gewöhnen uns daran, dass plötzlich der diskriminiert wird und dann die, das geht so schrittweise. Was jetzt unter Trump in den USA passierte: Wenn man sieht, dass zweijährige Kinder hinter Gittern sind. Die Ausrede möchte ich hören, dass einer sagt, das sei notwendig. Das sieht ein Blinder mit Krückstock, dass das nicht geht. Aber es ist wochenlang gegangen, trotz allem.

Kommen wir zu Ihrer Biografie. Ihre Mutter kam aus Deutschland. Wie haben sich Ihre Eltern kennengelernt?

Ja, sie kam aus der kleinen Stadt Coburg. Das ist so eine Kriegsgeschichte. Mein Vater war Soldat. Er war sieben Jahre jünger als meine Mutter. Sie war da ganz realistisch, sagte, alle in ihrem Alter, die in Frage gekommen wären, seien weggeschossen worden. Mein Vater hatte Fronturlaub, aber die Zeit war zu kurz, um nach Österreich zu fahren. Er hatte einen Freund, einen Soldaten, der aus Coburg kam, und der sagte: Geh doch mit mir mit, meine Eltern freuen sich, wenn ich einen Kameraden mitbringe. Und dann sind sie durch den Hofgarten spaziert und haben zwei junge Frauen gesehen, die ein Fahrrad geschoben haben. Eine davon war meine Mutter. Sie kamen ins Gespräch. Damals sagte man allen Frauen: Wenn ihr Soldaten trefft, gebt ihnen eure Adresse und schreibt ihnen, damit die nicht so einsam da draußen sind. Sie haben Adressen getauscht und haben einander geschrieben. Meine Mutter – das hat sie später auch im Beisein meines Vaters immer ganz klipp und klar gesagt – stellte schon beim ersten Treffen fest, dass das ein anständiger, höflicher Mensch war, er hat ihr auch ganz gut gefallen, er war Katholik, was für sie wichtig war, – und dann konnte man es probieren. Sie hat ihm an die hundert Briefe geschrieben, er ihr ungefähr achtzig. Mittendrin haben sie sich brieflich verlobt. Einmal ist er wieder auf Besuch gekommen, da haben sie sich am Nachmittag gesehen, dann haben sie einander die Ehe versprochen, dann ist er wieder gekommen, und sie haben geheiratet, zwei Tage später musste er wieder weg. Als der Krieg zu Ende war, hat sie nichts mehr von ihm gehört. Deutsche Staatsbürger durften damals ja nicht nach Österreich. Als sie dann später in München war, dachte sie sich: Ich probiere es. Sie wusste, dass er aus Hard kam und ist zu Fuß von München zum Bodensee gegangen. Sie sagte, das wäre die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Alles war am Nullpunkt, es konnte nur aufwärts gehen. Und dann war sie in Hard, und sie hat sich gedacht: Ich schau einmal und frage jemanden. Und dann sah sie ihn beim Dorfbrunnen: Erinnerst du dich noch an mich, ich bin deine Frau. Und er: Mensch, was tust du denn hier. Sie zogen zuerst nach Innsbruck, dort kam meine Schwester zur Welt, und dann zogen sie nach Vorarlberg zurück. Es war eine gute Ehe. Wenn man keine Alternative hat, und die Welt war untergegangen, sieht alles anders aus. Und so frei fließend leben wie Jetti in meinem Buch wollte meine Mutter ohnehin nicht. Sie wollte Kinder, eine Familie, und nach diesem Krieg war man nicht mehr so wählerisch. Aber was heißt wählerisch? Sie hat ja gut gewählt, weil es ja mein Vater war. Und meiner Mutter hat es nie leid getan. Sie hatte auch so ein Gottvertrauen. Sie glaubte, dass Gott ihr schon den Richtigen schicken würde. Und dann hat man eine ganz andere Einstellung dazu.

Ihre Großmutter war eine zentrale Gestalt Ihrer Kindheit?

Sie kam zu uns nach Hohenems, weil meiner Mutter bei der Geburt des letzten Kindes eine Ader im Kopf geplatzt ist, und sie danach halbseitig gelähmt war. Ich habe lange geglaubt, dass ich dieses letzte Kind bin, weil ich das jüngere bin, aber dieses Kind ist bald nach der Geburt gestorben. Meine Mutter hat sich von dieser Lähmung langsam, aber nie mehr ganz erholt. Sie hatte immer einen Stützapparat und ging auf Krücken. Ich kenne meine Mutter nur auf Krücken und mit Stützapparat und später im Rollstuhl. Als Kind aber nimmt man das als selbstverständlich hin. Und so kam eben meine Großmutter, meine Oma, und half meiner Mutter im Haushalt, denn allein hätte sie das nicht geschafft.

Ihre Großmutter war diejenige, die Ihnen die Liebe zur Literatur eingepflanzt hat?

Zur Literatur kann ich nicht sagen, denn gelesen hat sie nichts oder fast nichts. Aber sie hat immer erzählt. Sie war ein sehr eigenartiger Mensch, weniger gläubig, als abergläubisch, sehr, sehr abergläubisch. Wenn ihr eine Katze von der falschen Seite über den Weg gelaufen ist, ging sie sofort ins Haus zurück und hat es den ganzen Tag nicht mehr verlassen. Sie glaubte auch, dass man auf gar keinen Fall das Bettzeug über zwölf Uhr Mittag aus dem Fenster hängen darf. Nicht wegen der Nachbarn, sondern weil man sich das sonst verhext. Meine Oma war sechzehn Jahre bei uns. Und in diesen sechzehn Jahren hat sie sich geweigert, ihre Sachen in den Schrank zu geben. Sie hatte zwei Koffer, den großen und den kleinen, und ihre Wäsche und ihre Sachen hat sie immer in den Koffer getan. Sie hat zwei Weltkriege miterlebt, und daraus resultierte dieses Trauma, jederzeit bereit sein zu müssen. Ihre Art des Erzählens habe ich später immer sehr bewundert, weil die eben so ganz anders war, als die so genannten professionellen Erzähler meinen, dass man erzählen muss: dass man so ein Gesichtstheater aufführt. Meine Oma hat vollkommen monoton erzählt und wurde dabei immer leiser und leiser. Dadurch war ich gezwungen, immer näher an sie heran zu rücken, und am Schluss bin ich direkt an ihr gelegen. Das war fast eine Art Dämmerzustand. Das hatte etwas ganz Magisches. Ich hatte auch immer das Gefühl, dass sie gar nicht genau wusste, was sie da erzählte. Sie erzählte mit monotoner Stimme, ohne jeden Kommentar von den unglaublichsten Grausamkeiten, die in den Märchen vorkommen: Wie der Bär dem Wolf den Kopf abgerissen hat, ihn sich wie einen Handschuh übergestülpt und ihm dann mit den eigenen Zähnen das Herz herausbeißt. Ein irres Bild. Manchmal wusste ich dann auch nicht, ob das wahr ist oder nicht, was sie erzählt, sie hat da nie einen Unterschied gemacht. Herr Korbes aus dem Märchen der Brüder Grimm kam mir realer vor als das Fräulein Montag, das es wirklich gegeben hat. Schließlich wurden die Pausen länger, und ich dachte: Jetzt schläft sie gleich ein – und ich auch. Ich hielt das immer für die beste Art und Weise zu erzählen.

Stimmt es, dass Sie als Kind Legastheniker waren?

Ich bin es immer noch. Aber inzwischen bin ich öfter von Legastheniker-Vereinen eingeladen worden, und da habe ich schon gemerkt, was für schwere Legastheniker es gibt. Das war und bin ich nicht. Aber wenn Sie mir jetzt einen Text geben, keinen schweren, sondern einen normalen Text und wollen, dass ich ihn vorlese, bringen Sie mich in Verlegenheit. Da würde ich Sie bitten, dass ich ihn mir vorher durchlesen darf. Ein längeres Wort, das ich nicht kenne, gehe ich Buchstabe für Buchstabe durch. Und wenn ich müde bin, kann ich am Computer „b“, „d“ und „g“ nicht unterscheiden. Statt „gibt“ schreibe ich dann „bigt“. Solche Sachen eben. Ich habe mir zum Trost sagen lassen, dass es intelligenzfördernd sei, dass man sich als Legastheniker permanent ein System aus Eselsbrücken bauen muss. Aber das ist mir kein Hindernis. Irgendwann habe ich gelesen, dass der Prozentsatz von Legasthenikern, oder leicht legasthenischen Menschen unter Schriftstellern am höchsten sei. In der ersten Klasse Volksschule konnte ich jedenfalls um Ostern herum keinen einzigen Satz lesen. Nicht einen einzigen. Mein Vater wollte, dass ich etwas vorlese, und ich stand da und konnte es nicht. Er war von den Socken, denn Lesen und Literatur waren für ihn die Schlüssel zur Freiheit des Menschen. Und er hat sich gedacht: Was habe ich da für einen Kretin. Er ist zur Lehrerin gegangen, einer ganz liebenswürdigen Person, und die sagte zu ihm: Herr Köhlmeier, wenn er es braucht im Leben, lernt er es. Sie hat mich niemals vor der Klasse bloßgestellt. Sie ließ mich nie vorlesen. Sie wusste, dass das eine Schwäche von mir ist, und die wollte sie nicht noch betonen. Wissen Sie, wie wir bei ihr lesen gelernt haben? Sie war der Meinung, dass frische Luft das Beste für ein Kind sei. Also sind wir ins Freie gegangen, durchs Dorf und zum Friedhof, denn dort steht am meisten geschrieben. Bei den Toten haben wir lesen gelernt.

An Ihre Internatszeit denken Sie nicht gerne zurück.

Ich denke nicht gern daran. Als die Missbrauchsaffäre rund um Kardinal Groer aufkam, wurde ich vom Rundfunk angerufen, und als ich sagte, dass es bei uns keinen sexuellen Missbrauch gegeben habe, winkte man ab. Dass ein Zehnjähriger auf Bleistiften knien und dabei auf den ausgetreckten Armen drei Lexikabände halten musste, interessierte niemanden. Wenn ich jetzt an die Internatszeit denke, habe ich sofort ein unangenehmes Gefühl, weil ich mich dort als Menschen sehe, der nur Angst hatte und vor allem immer ein schlechtes Gewissen. Sogar jetzt habe ich das noch und denke, wir mussten zwar auf Bleistiften knien, aber das hatte bestimmt einen Grund. Der Präfekt, auf dessen Befehl man da gekniet ist, weil man irgendetwas angestellt hatte, stand dann neben einem. Er schimpfte nicht, sondern sagte: Ich bin bei dir, wir schaffen das gemeinsam. Und ich dachte: Gut, dass er da ist, jetzt komme ich doch nicht in die Hölle, es tut zwar jetzt im Augenblick weh, aber dann wird es gut. Und ich hatte ein wahnsinnig schlechtes Gewissen, dass ich ihm jetzt Zeit abnehme, dass er sich um mich kümmern muss. Und wenn ich jetzt daran denke, habe ich das immer noch. Deshalb erinnere ich mich ungern daran.

Hat das Studium der Germanistik etwas zu Ihrem Wunsch, Schriftsteller zu werden, beigetragen?

Ich habe in Marburg an der Lahn an einer sehr linken Universität Germanistik studiert. Ich erinnere mich, wie mich ein Kommilitone einmal fragte, was ich über die Pfingstferien gemacht hätte. Ich sagte, ich hätte Thomas Mann gelesen. Da antwortete er: Du musst aber Zeit haben. Er las ein Buch über Thomas Mann, also Sekundärliteratur. Ich habe dann noch Mathematik studiert, und unter den Mathematikern viel begeisterte Leser gefunden, mehr als unter den Germanisten. Es gab zum Beispiel ein Seminar über Heinrich Manns „Der Untertan“, und der Seminarleiter mutete den Studenten nicht einmal zu, den ganzen Roman zu lesen. Da wurden Arbeitsgruppen gebildet: Der erste liest die ersten fünfzig Seiten, der zweite liest die nächsten fünfzig Seiten und so weiter.

Das klingt erschreckend nach den heutigen österreichischen Lehrplänen.

Konrad Paul Liessmann hat mir erzählt, was heute als zumutbar gilt an der Universität oder nicht. Zum Beispiel kann er keine Literaturangaben machen, die sich die Studenten nicht aus dem Netz herunterladen können. Denn das würde sonst arme Studenten diskriminieren. Jeder bei uns hat doch heute das Geld, sich ein Buch zu kaufen. Ich bin Blut spenden gegangen, damit ich mir Bücher kaufen konnte. Aber wir sind eben die alten Heroen. Die hat es immer gegeben.

Hohenems ist nach wie vor Ihr Lebens- und Schaffensmittelpunkt. Sie wollen nicht weg von dort?

Nein, ich wüsste nicht, weshalb. Besser kann ich es mir nicht vorstellen. Ich bin ja immer wieder in Wien, wohne auch immer wieder hier, auch einer unserer Söhne wohnt in Wien. In Hohenems haben wir ein Haus, einen Garten.

Wenn Sie sich an Ihre Anfänge zurückerinnern: Ihre Frau, die Schriftstellerin Monika Helfer, und Sie, beide freischaffend, vier kleine Kinder – wie haben Sie das geschafft?

Nach meinem Studium habe ich angefangen, als freier Mitarbeiter beim Rundfunk zu arbeiten. Ich dachte immer, dass ich das nur vorübergehend mache, bis wir vom Schreiben leben können. Aber mit den vier Kindern ­– das hat dann so viel erfordert, dass ich manchmal sieben Tage in der Woche gearbeitet habe. Es war mit einem Schlag besser, als ich mit dem Sagenerzählen begonnen habe. Und da habe ich etwas Merkwürdiges festgestellt: Wenn ich eingeladen worden bin, um zum Beispiel aus der griechischen Mythologie zu erzählen, bin ich ökonomisch nicht als Autor eingeordnet worden, sondern so ähnlich wie ein Schauspieler, so dazwischen. Wenn ich als Autor meinen eigenen Bücher zu einer Lesung eingeladen worden bin und dafür 5000 oder 6000 Schilling bekommen habe, dachte ich: Super. Als Vortragender habe ich 35.000 bis 40.000 Schilling verlangt, und hatte trotzdem immer das Gefühl, dass die dachten, sie hätten mich billig bekommen. Otto Schenk bekam damals 120.000 Schilling und hat immer dasselbe erzählt. Ein Otto Schenk war ich also nicht. Aber wenn ich für einen eineinhalbstündigen Abend über die griechische Mythologie 35.000 Schilling verlangt habe, gab es keine Diskussion. Wenn ich dieselbe Summe für eine Lesung aus meinem Roman verlangt hätte, hätten mich die Veranstalter gefragt, ob ich noch ganz bei Sinnen bin oder ob ich Lira meine. Und da habe ich mir schon gedacht, das nütze ich aus. Ich hatte viele Vorteile davon.

Sie lesen ja auch Ihre eigenen Bücher ein. Nicht alle Kollegen sind so begnadete Erzähler oder Vorleser wie Sie.

Es gibt welche, die wirklich schlecht lesen. Aber wenn jemand auch nur mittelmäßig liest, ist es mir lieber, dass er es selbst einliest, als dass ein Schauspieler es liest. Denn es ist doch das eigene Werk des Autors. Beim Nacherzählen hatte ich immer ein bisschen das Gefühl, dass ich da einen Schummel treibe. Es hat mich so wenig Mühe gekostet, aus der griechischen Mythologie zu erzählen. Natürlich habe ich mich damit beschäftigt, es mir angeeignet, aber es hat mir immer Spaß gemacht. Ein paarmal habe ich es fast sportiv betrieben und einen Vierstundenabend gehalten. Aber das strengt mich nicht an. Eine Lesung strengt mich mehr an. Besonders, wenn es die ersten Lesungen aus einem Buch sind. Da habe ich Fieber. Auch der Akt des Lesens ist ein anderer. Bei einer Lesung starre ich in das Buch und ab und zu ins Publikum. Beim Erzählen sehe ich nur die ersten zwei oder drei Reihen. Ich suche mir zwei oder drei Personen aus, die schaue ich immer wieder an und denen erzähle ich das dann. Man ist schon so erzogen, dass etwas nur gut ist, wenn es auch Mühe kostet. Das Erzählen kostet mich wenig Mühe. Man könnte es ja auch umgekehrt sagen. Wenn dir etwas wirklich unheimlich schwer fällt, ist das vielleicht ein Hinweis darauf, dass es nicht deines ist. Manche Autoren sagen, sie schreiben so ungern und es sei für sie eine Qual. Dann denke ich mir: Es gibt keinen Grund, der dich dazu zwingt. Vielleicht ist es dann wirklich nicht das Richtige. Das kann man sich auch eingestehen und sagen: Das ist nicht meins.

Sie sind ein allerdings selten vielseitiger Künstler. Sie haben Romane, Hörspiele, Drehbücher geschrieben, auch fürs Theater, eigene Lieder eingesungen, Märchen, Sagen und Geschichten aus der Bibel nacherzählt – Machen Sie da für sich Unterschiede?

Eigentlich nicht. Ich mache auch zwischen Kochen und Schreiben im Prinzip keinen Unterschied. Nicht einmal zwischen Schreiben und Aufräumen. Auch wenn ich einen Generalputz in meinem Zimmer mache, gehe ich ähnlich vor wie beim Schreiben. Oder wenn ich irgendetwas bastle. Das ist alles irgendwie ähnlich. Man weiß, was man selber machen muss, um inspiriert zu werden.

Sie sind schon sehr lange mit Ihrer Frau Monika Helfer zusammen. Wie gelang und gelingt das? Sie mussten auch sehr Schweres miteinander teilen, den Tod der Tochter. Wie schafft man es da, als Paar zusammenzubleiben?

Nach Paulas Tod haben uns viele Leute angesprochen oder angeschrieben, die ein ähnliches Schicksal haben. Entweder es hat die jeweiligen Familien zusammengeschweißt, oder aber Ehen sind zerbrochen. Bei uns hat es die Familie sehr zusammengeschweißt. Aber es ist dann auch gut, dass noch drei Kinder da sind. Ich glaube, wenn das ein einziges Kind ist, das einzige, dann sieht die Situation anders aus. Und ansonsten: Monika benötigt ebenso wie ich einen großen Freiraum. Sie braucht mindestens zwei Stunden am Tag, in denen sie allein ist, und das brauche ich auch. Als junger Mensch gesteht man sich das selber und dem anderen schwer zu. Man meint, der andere liebt einen nicht genügend, wenn er mich zwei Stunden lang nicht aushält oder nicht 26 Stunden am Tag mit mir zusammen sein möchte. Aber so ist es ja nicht. Seit vielen Jahren geht die Monika jeden Tag über den Berg, und ich gehe meistens im Flachen spazieren. Einmal in der Woche gehe ich mit ihr über den Berg und sie mit mir spazieren, oder eben nicht, und das funktioniert ganz gut.

Was ist Ihre prägendste, was Ihre schönste Kindheitserinnerung?

Meine Mutter war gehbehindert. Mein Vater war Journalist und den Tag über nie zu Hause, und am Wochenende war er auch journalistisch tätig. Er war eigentlich nicht da. Die Oma war ein ganz versponnenes Wesen. Und was meine Mutter betrifft, so wusste ich, dass ihr Einfluss auf mich vollkommen erlischt, wenn ich drei Schritte zurückgehe. Sie konnte mir ja nicht nachlaufen. Das hatte zur Folge, dass sie gar keine andere Möglichkeit hatte, als totales Vertrauen zu mir zu haben. Wenn sie sagte: Bitte, komm am Abend um sieben Uhr nach Hause, wusste ich, das sie mich weder verhauen kann, wenn ich nicht komme, noch mich suchen kann. Und das hatte wiederum zur Folge, dass ich dieses Vertrauen nie gebrochen habe. Ich habe für mich selber eine Formel gefunden: Ich bin in einer liebevollen Verwahrlosung aufgewachsen. Es konnte sich niemand um mich kümmern. Und das ist das Beste, was einem passieren kann. Ich musste mich um alles selber kümmern. Meine Schwester machte mir am Morgen das Schulbrot, aber ich konnte mir auch relativ früh einfache Sachen kochen. Und einmal in der Woche musste auch ich die Stiege runterputzen. Es war fast wie in einer Wohngemeinschaft. Meine Mutter hatte wirklich Vertrauen zu mir. Auch später, als ich auf einmal so schlecht in der Schule wurde. Aber sie dachte sich eben: Er wird das schon machen.

Heute sind Kinder Projekte und werden von ihren Helikopter-Eltern und Betreuern von klein auf überwacht. Auf dem Land aufzuwachsen so wie Sie hat es den Kindern früher einfacher gemacht, oder?

Ja. Reinhold Bilgeri und ich wuchsen wie Brüder auf. Wir waren keine Freunde, wir waren Brüder. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich ihn nicht gekannt habe. Er hatte auch bei uns zuhause am Mittagstisch einen fixen Platz. Und dieses Freie in den Bergen oder einen freien Tag am Alten Rhein zu haben – das sind meine schönsten Kindheitserinnerungen. Das war so, wie ich es später in „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ gelesen habe. Daran denke ich heute noch, und das würde ich gerne wieder tun. Und was man sich nicht alles vorgenommen hat! Einmal hatte ich es verabsäumt, mir aus Haselruten Bogen und Pfeile zu machen, und dachte: Dann mache ich es eben nächstes Jahr. Aber nächstes Jahr war man dann schon zu alt dafür. Ein Jahr später hatte man überhaupt kein Interesse mehr an Haselruten, sondern an Mädchen, ganz plötzlich.


Michael Köhlmeier wurde am 15. Oktober 1949 in Hard in Vorarlberg geboren. Nach dem Studium der Germanistik und Mathematik begann er als freier Mitarbeiter beim ORF. Sein Debütroman „Der Peverl Toni und seine abenteuerliche Reise durch meinen Kopf“ brachte den Rauriser Literaturpreis. In seinen Nacherzählungen antiker Sagen interpretiert er die Klassik neu. Mit dem Epos „Abendland“ stand er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Köhlmeier lebt in Hohenems und Wien.

Bruder und Schwester Lenobel
Hanser, 544 S.