Eine Lesung um Mitternacht, Buchpartys und Liveübertragungen in tausend Kinos: Margaret Atwoods Roman „Die Zeuginnen“ entfesselte ein mediales Getöse von Harry-Potter-Ausmaßen. Eine inszenierte Weltpremiere.

Das Buch ist die heftigst erwartete Fortsetzung ihres Klassikers „Der Report der Magd“ aus dem Jahr 1985, der in einem totalitären, frauenversklavenden Amerika der nahen Zukunft angesiedelt ist, genauer: in der theokratischen Diktatur Gilead. Christliche Fundamentalisten führen dort das Wort, Frauen dürfen keinen Beruf ausüben und werden zwangsverheiratet, die nach der Umweltversuchung noch fruchtbaren „Mägde“ als Gebärmaschinen gehalten. Abtreibung und Homosexualität sind bei Todesstrafe verboten, Lesen ist Männern vorbehalten (und den „gleicheren Tanten“).

Im Gefolge von Trump, #MeToo und insbesondere der von 2017 an ausgestrahlten gleichnamigen Fernsehserie wurde der dystopische Roman nun erneut zum Politikum: In den USA demonstrierten Frauen in roten Roben und weißen Hauben (dem Korsett der „Mägde“) gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, das dort wieder in Frage gestellt wird.

„Die Zeuginnen“ setzt fünfzehn Jahre nach dem Ende des „Reports“ ein und wird aus der Perspektive dreier Frauen erzählt (nicht aus der Desfreds, der Protagonistin des „Reports“): die in Gilead aufgewachsene Agnes, Desfreds Tochter Nicole, die mit Hilfe der kanadischen Untergrundorganisation Mayday als Kind nach Kanada entkam, und Tante Lydia, die grausame Ausbildnerin aus dem „Report“. Sie wäre die mit Abstand spannendste Figur: Nach einer unglücklichen Kindheit arbeitete sie sich nach oben und war vor dem Regime als Familienrichterin erfolgreich. In Gilead wird sie eine der wendigsten Stützen der von Männern beherrschten Gesellschaft. Durch Folter mürbe gemacht, wählt sie den „meistbegangenen“, mit „Leichen gepflasterten Weg“. Sie kollaboriert so weit, ihre ehemalige Kollegin zu exekutieren.
Atwood hätte es sich einfacher (aber auch schwerer) machen können. „Die Zeuginnen“ ist keine plumpe Trump-Attacke, auch wenn es Anspielungen z. B. auf die aktuelle Flüchtlingssituation gibt (anderes erinnert heute an den Islamischen Gottesstaat), und darf durchaus #MeToo-skeptisch gelesen werden. Die Unterdrückung der Frauen funktioniert nur unter Einbindung von Frauen, die das Unrechtssystem decken. Frauen sind nicht weniger gewaltbereit als Männer: Bei der sogenannten Partizikution (ein aus Partizipation und Exekution zusammengesetztes Kunstwort) wird ein Kinderschänder von den Mägden in Stücke gerissen. Der Überwachungsstaat ist längst Realität geworden, Korruption und Intrigen fressen das Regime von innen her auf. Dass Wissen Macht ist – auch darum kreist das Buch, das Elemente des Spionagethrillers einbaut. Auch Gileads Sturz wird von innen her vorbereitet. Das Motiv dafür ist Rache, erscheint aber angesichts der Vorgeschichte des Maulwurfs unter den Tanten wenig plausibel. Die Figuren und ihre Handlungen bleiben seltsam undifferenziert. Am Ende liegt das Schicksal Gileads in den Händen zweier – eigentlich dreier – sehr junger Frauen: Das jedenfalls ist eine starke Ansage in gesellschafts- und (umwelt-)politisch düsteren Zeiten. „Die Zeuginnen“ ist weniger literarisches als ein Medienereignis, das aber Hoffnung macht.

Margaret Atwood, „Die Zeuginnen“ (Berlin Verlag),
Übers. v. Monika Baark , 576 S.