aus: Buchkultur 169, Dezember 2016

Wer als Behindertenpädagogin mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet hat, ist für die heile Welt verloren. So jemand weiß, dass unsere Wirklichkeit fürchterlich mangelhaft eingerichtet ist und der Frieden in der Gesellschaft auf dünnem Boden steht. Birgit Birnbacher hat für sich eine Methode gefunden, mit den Verwerfungen unserer Zeit zurande zu kommen. Sie macht Literatur daraus, und zwar eine, die nicht aus therapeutischer Not heraus entstanden ist, sondern aus dem Bedürfnis zu verstehen, was rund um uns herum los ist. Sie lässt sich nicht hineinfallen in die tragischen Schicksale verbohrter, verkorkster, heruntergekommener, kaputter Charaktere, sie geht auf Distanz zu ihnen. Der Roman „Wir ohne Wal“ ist keine Übung in Empathie, mit dem Prinzip Einfühlung kommt man bei Birnbacher nicht weit. Sie ist die Soziologin, der es um Benennung und Klärung geht. Das macht ihre Literatur kühl und hart. Sie entschuldigt nicht, verharmlost nicht, redet Untaten nicht klein, sie ist keine Anwältin der Opfer und keine Anklägerin von Tätern, sie ist die Sachwalterin der herrschenden Unvernunft. Doch, von Unvernunft kann man reden, denn so, wie Menschen miteinander umgehen in der Gesellschaft und also auch im Buch dieser Autorin, von einer vernünftigen Regelung der Beziehungen ist nicht die Rede. Das verwundert nicht; ihre Hauptfiguren sind junge Menschen, unfertige Charaktere, verführbar und leicht zu beeinflussen, vor allem in der Gruppe drängt es sie nach Anerkennung. Sie sind gefühlsgesteuert, lassen sich treiben, geraten auf die schiefe Bahn, nehmen Drogen, haben ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden, sie befinden sich im Experimentierstadium ihres Lebens. Birgit Birnbacher bezieht nicht Stellung, ergreift nicht Partei, so ist das eben unter uns Menschen, blöd eigentlich, aber das ist nicht zu ändern. Der Roman setzt sich aus zehn in sich geschlossenen Erzähleinheiten zusammen, die für sich genommen eine Momentaufnahme aus dem Leben eines jungen Menschen ergeben. Zusammen aber bilden sie das Zeitporträt einer verunsicherten Gesellschaft. Eine Figur, die einmal im Zentrum einer Geschichte stand, rückt in einer anderen zurück in die zweite Reihe. Durch wiederkehrende Motive werden diese Erzählungen zusammengehalten.

Birgit Birnbacher
„Wir ohne Wal“ (Jung und Jung)
166 S.

Foto: Eva-Maria Mrazek